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Parlamentarier diskutieren über Bildungsgerechtigkeit im Lichte des aktuellen Ländervergleichs Landtagsdebatte über sortierte Kinder, genetische Grenzen und gleiche Chancen

Von Jens Schmidt 23.03.2012, 04:14

Schüler aus armen Elternhäusern haben geringere Aufstiegschancen als der Nachwuchs aus wohlhabenden Haushalten. Die Diskrepanz ist in den Bundesländern unterschiedlich stark ausgeprägt. Gestern debattierte darüber der Landtag.

Magdeburg l Das Hohe Haus sprach über Schule und rang zunächst mit der Disziplin. SPD-Parteivize Corinna Reinecke mühte sich am Mikrofon redlich, doch gegen das lautstark vorgetragene Desinteresse der CDU-Fraktion hatte sie nicht die Spur einer Chance. In den Reihen der Union wurde geplaudert und geschwätzt, so dass auf der - sich ohnehin im akustischen Abseits befindlichen - Pressetribüne nur Rede-Fetzen ankamen. Von "fairen Schulen und starken Schülern" war etwas zu hören, und davon, dass Sachsen-Anhalt einen Paradigmenwechsel braucht. Einen tiefgreifenden. Landtagspräsident Detlef Gürth (CDU) war ganz offensichtlich zu sehr ins Aktenstudium vertieft, als dass er zum Eingreifen in der Lage gewesen wäre.

Es ging, so viel wurde klar, um die jüngste Bertelsmann-Studie zur Chancengerechtigkeit an den Schulen. Kernerkenntnis: Schüler aus oberen sozialen Schichten haben in Sachsen-Anhalt eine viermal höhere Chance, das Gymnasium zu besuchen, als Kinder aus unteren sozialen Gruppen. Damit liegt das Land im Mittelfeld. Es gibt bessere. Zum Beispiel Sachsen. Da liegt der Chancenunterschied "nur" bei 2,8. Jedoch: Bertelsmann hat nicht nur aufgelistet, wie fair der Aufstieg ist, sondern auch, in welchem Maße Schüler wieder absteigen - etwa vom Gymnasium an die Sekundarschule. Und da sieht Sachsen gar nicht gut aus. Dort stehen einem Aufstieg 11 Abwärtswechsel gegenüber. In Sachsen-Anhalt sind es 3; das Bundesmittel liegt bvei 4. Was nützt es, wenn man Schülern aus sozial schwächeren Schichten den Weg nach oben erst ebnet - sie dann aber womöglich allein lässt und viele nach wenigen Jahren desillusioniert das Gymnasium wieder verlassen müssen? Während die sozial bedingten Aufstiegschancen breit diskutiert werden, wird den Abstiegsrisiken in der Debatte wenig Beachtung geschenkt. Die CDU versuchte es mit ihrem Ansatz, dass bei allem Ringen um mehr Chancengerechtigkeit auch begabungsbedingte Grenzen zu beachten seien. Ihr Bildungspolitiker Jürgen Weigelt sprach von "Grenzen, die durch unsere genetische Disposition determiniert sind".

Das brachte Grünen-Fraktionschefin Claudia Dalbert auf die Palme. "Ich bin erschüttert, dass Ihrer Meinung nach Bildungserfolg von der genetischen Ausstattung abhängt." Forschungen hätten ergeben, dass die Gene einen Anteil von maximal 30 Prozent hätten. "Statt die Kinder zu sortieren, müssen wir sie unterstützen", forderte sie vehement. "Unsere Verantwortung ist es, allen Kindern die gleichen Chancen zu geben, das Beste aus ihren Leben zu machen - unabhängig davon, ob ihre Eltern Abitur haben oder nicht."

Birke Bull von der Linken hob das Personalproblem hervor: Es fehle an pädagogischen Mitarbeitern. Ihre Kritik zielte auch auf das Personalkonzept der Regierung. Gut ausgebildete Lehrer verlassen derzeit Sachsen-Anhalt, da es nicht genügend Stellen gibt.

CDU-Fraktionschef André Schröder legte Wert auf die Feststellung, dass man über Gen-Prozente streiten mag, es aber wohl feststeht, dass "jeder unterschiedliche Voraussetzungen hat". Und: "Statt nach mehr Geld zu rufen, sagen wir: Wir brauchen die richtige Schule für jeden, aber nicht eine Schule für alle."

Schröders Hinweis, dass mehr Geld allein nicht glücklich macht, dürfte Finanzminister Jens Bullerjahn (SPD) gefallen haben, der wortlos die Debatte von der Regierungsbank aus verfolgte. Denn eines offenbarte die Bertelsmann-Studie auch: Obwohl Sachsen-Anhalt soviel Geld ausgibt wie kaum ein anderes Bundesland (ca. 7000 Euro pro Schüler), sind die Ergebnisse nur mittelmäßig. Wo die Ineffizienzen liegen, weiß noch keiner so recht. Sachsen zum Beispiel investiert 6400 Euro je Schüler und schneidet in der Studie am besten ab; Mecklenburg-Vorpommern kommt mit 5800 Euro je Schüler aus, Brandenburg mit 5700 Euro, Schleswig-Holstein mit 5000 Euro.

Kultusminister Stephan Dorgerloh (SPD) verwies - bei allen noch bestehenden Unwuchten - auf erste Fortschritte. So sei der Anteil der Ganztagsschüler gestiegen (Sekundarschüler 38%, Gymnasiasten 29%). Auch gebe es einen klaren Trend zur Inklusion: Mittlerweile lernen 21 % der Schüler mit Lerndefiziten in "normalen" Klassen.