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Gedenkstätten erinnern an 60. Jahrestag der Abriegelung der innerdeutschen Grenze Umsiedlung des "Grenz-Ungeziefers": "Wenn Sie nicht wollen, können wir auch anders"

Von Andreas Stein 15.05.2012, 05:20

In diesen Tagen vor 60 Jahren ordnete der DDR-Ministerrat die Abriegelung der innerdeutschen Grenze an. Gleichzeitig wurden 8000 politisch unliebsame Familien aus der Sperrzone zwangsumgesiedelt. Die Opfer leiden bis heute darunter.

Hötensleben/Marienborn l Einige Eckdaten der DDR-Geschichte sind (noch) Allgemeinwissen: Volksaufstand 1953, Mauerbau 1961, Wende 1989. Allenfalls Historikern und eingefleischten Geschichtskennern dürfte jedoch das Datum 26. Mai 1952 bekannt sein. An diesem Tag verfügte der Ministerrat der DDR die Abriegelung der innerdeutschen Grenze. In den folgenden Wochen wurde eine fünf Kilometer breite Sperrzone errichtet, Befestigungen aufgebaut. Unter dem Decknamen "Aktion Ungeziefer" ließ die SED außerdem durch Stasi und Polizei mehr als 8000 politisch unliebsame Bürger und ihre Familien aus grenznahen Orten ins DDR-Hinterland deportieren.

"Der 26. Mai 1952 bildete den Auftakt zur Bildung eines menschenverachtenden Grenzregimes. Die Zwangsaussiedlungen haben bis heute Wunden hinterlassen", sagt Kai Langer, Leiter der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt. Doch heute seien die Geschehnisse fast in Vergessenheit geraten. Deshalb will die Stiftung nun gemeinsam mit dem Verein Grenzenlos und dem Grenzdenkmalverein Hötensleben mit mehreren Veranstaltungen an die Opfer der Zwangaussiedlungen erinnern (siehe Infokasten).

Kein Interesse an Erinnerung hat Achim Grill, im Gegenteil: Der 74-Jährige aus dem Hötensleber Ortsteil Barneberg würde am liebsten vergessen, was ihm und seinen Eltern passiert ist. Mühsam hatten Großvater und Vater in Barneberg eine Tischlerei aufgebaut, den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, mehrere Wirtschaftskrisen und das NS-Regime überstanden. Den Sozialisten waren Grills trotzdem ein Dorn im Auge, wie ein Aktenvermerk der "Aktion Ungeziefer" belegt: Tischlermeister Grill sei ein "äußerst reaktionäres Element", "gegen die Einrichtungen der DDR eingestellt". Außerdem war sein Bruder Polizeiinspektor im westdeutschen Schöningen.

Nach der Verordnung des Ministerrates gab es bereits gehörig Unruhe in Barneberg, und als der 14-jährige Achim am 29. Mai von der Lehre aus Eilsleben nach Hause kam, hieß es: "Hier sind nachmittags Leute ausgesiedelt worden." Typisches Bürgertum, darunter Handwerker, Bauern und Zeugen Jehovas. Eine Bekanntmachung rief die Bevölkerung zur Ruhe, doch am 6. Juni bewahrheiteten sich die schlimmsten Befürchtungen der Grills: Früh am Morgen polterten bewaffnete Polizisten und Agitatoren an der Tür, in der Hand den Umsiedlungsbescheid. "Wieso wir denn? Was haben wir verbrochen?", fragte Achim Grills Mutter. "Das haben Sie Adenauer zu verdanken. Wenn Sie nicht wollen, können wir auch anders", hieß es nur. Dann kamen schon die "Helfer" und räumten alle Möbel innerhalb weniger Stunden in einen Lkw. Ein "halber Untergang", ein Terrorakt war es für die Familie, Haus, Tischlerei und Heimat aufzugeben. Im nahen Völpke mussten sie mit Hab und Gut auf Züge umsteigen.

Unter den Zwangsaussiedlern im Zug herrschte eine "schweigende Aufregung". "Es geht nach Sibirien", tuschelte man im Zug, als die Bahn schließlich mit unbekanntem Ziel anfuhr. 5 Uhr früh stoppte die Fahrt in Weißenfels. "Alles aussteigen!", hieß es. Die Möbel kamen wieder auf Lkws und es ging für Grills nach Naumburg, wo sie nur mit Mühe eine Unterkunft fanden. Der Neuanfang fiel schwer, sie wurden als Schieber und Agenten verleumdet. Achim Grills Mutter verkraftete die Umsiedlung nicht. Sie wurde depressiv und krank, starb 1955. 1961 wurde der Besitz der Familie zwangsenteignet.

Viele Jahre vergehen, doch die Heimat vergisst Achim Grill nie. Im November 1989 ruft er in Barneberg an, fordert das inzwischen in Eigentum der Gemeinde befindliche Haus zurück - erfolglos. Laut Grundgesetz werden Eingriffe ins Eigentum im DDR-Gebiet nicht mehr rückgängig gemacht, er muss das eigene Haus zurückkaufen. 1997 ziehen Grills wieder nach Barneberg und arbeiten bis heute an der Sanierung.

"Bei der Aufarbeitung des DDR-Unrechts hat man sich nur auf Inhaftierte konzentriert. Dass die Täter heute Rente kriegen, macht mich wütend", sagt Achim Grill. Zwar seien die Zwangsumgesiedelten formaljuristisch rehabilitiert. Entschädigt wurden sie vom Land Sachsen-Anhalt nicht.