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Erinnerungen an den Herbst 1989 in Magdeburg "Ich habe Angst, aber ich werde am Abend in den Dom gehen

11.11.2009, 10:21

Sonnabend, 7. Oktober 1989

Der 40. Jahrestag der DDR. Es ist Volksfest an diesem Tag in Magdeburg, doch Feierstimmung ist bei vielen nicht vorhanden. Seit langem brodelt es in diesem Land. Was passiert mit diesem Staat ? Sollen wir auch in den Westen flüchten ? Dabei will ich gar nicht weg aus Magdeburg, sondern hier ein besseres, demokratisches und freies Leben führen. Die Antwort ist für mich die aktive Teilnahme an den Gebeten um gesellschaftliche Erneuerung seit Mitte September 1989 im Dom. Hier zeigt sich, dass immer mehr Magdeburger den Mut hatten, mehr Demokratie einzufordern.

Montag, 9. Oktober 1989

Am Morgen werden in den Großbetrieben die Arbeiter über den Betriebsfunk und die Schüler in den Schulen von ihren Direktoren informiert : wer am Abend in den Dom geht, zum vierten Gebet für gesellschaftliche Erneuerung, ist ein Staatsfeind und würde sein Leben aufs Spiel setzen. Es würde an diesem Abend Militär und Polizei gegen die Dombesucher eingesetzt, ja es ging sogar das Gerücht, an diesem Abend würde scharf geschossen ...

Ich habe Angst, aber ich werde am Abend in den Dom gehen. ... Zum Schluss ruft Domprediger Quast die Gebetsteilnehmer auf, sofort zur Straßenbahn zu gehen, nichts zu rufen, nichts zu tun, was das Militär zum Reagieren auffordern würde. Es funktioniert. Die 6000 Mann unter Waffen lassen die Dombesucher unbehelligt nach Hause fahren und gehen.

Dann im Radio die Information, dass die Leipziger viel mutiger waren als wir Magdeburger : 70 000 Menschen demonstrierten friedlich mit Kerzen auf dem Innenstadtring. Dieses Gefühl : " Jetzt haben wir sie besiegt, sie können uns nichts mehr tun, jetzt wird alles anders !" ist unbeschreiblich.

Freitag, 10. November 1989

In den vergangenen Wochen ist das Staatssystem wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Erich Honecker ist abgetreten, Dialog zwischen Bürgern und staatlichen Stellen ist möglich, wenn auch nur sehr vorsichtig. Seit dem 23. Oktober wird auch in Magdeburg demonstriert, stolz war ich dabei. Die Zeitungen werden von Tag zu Tag interessanter, berichten mit langen Wortauszügen von Demonstrationen auf dem Domplatz. Am 4. November habe ich erlebt, wie bei Eiseskälte auf dem Domplatz Magdeburgs OB Werner Herzig und der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Werner Eberlein, ausgebuht wurden. ...

Am Abend des 9. November sind fast alle in der Familie krank. Mein kleiner Sohn hat am nächsten Tag seinen zweiten Geburtstag. Ich backe noch einen Kuchen, lese etwas, mache kein Radio an, einen Fernseher haben wir nicht – und so habe ich den Mauerfall verschlafen.

Am frühen Morgen des 10. November 1989 um 6. 15 Uhr geht der Radiowecker an, Deutschlandfunk, ich kann das, was ich höre, nicht richtig in meinen Kopf bringen. Die Berliner Mauer ist offen ? Die Menschen gehen zu Tausenden nach West-Berlin ? Ist das ein Hörspiel ? Doch das ist keine Sendezeit für Features, das ist Berichtszeit über reelle Ereignisse. Wenn in den nächsten Nachrichten auch über die Maueröffnung gesprochen wird, muss es ja wahr sein. Und es ist tatsächlich geschehen. Dieses Hochgefühl kann niemand beschreiben. Und mit dem Mauerfall der Gedanke, nun muss es zur Wiedervereinigung kommen, nun kann sie niemand mehr aufhalten.

Rückblick

Ich bin sehr dankbar, die friedliche Revolution in Magdeburg miterlebt zu haben. Es war die bisher spannendste Zeit in meinem politischen Leben. Sie hat auch mein berufliches Leben völlig verändert. Im Dezember 1989 standen wir vom Neuen Forum nachts Wache vor den Stasi-Objekten, um Aktenvernichtung zu verhindern. Ich habe weiter an vielen Montagsgebeten, Demonstrationen und Kundgebungen teilgenommen.

Mitte März 1990 war ich tief betroffen bei der ersten Besichtigung des ehemaligen Stasi-Gefängnisses am Moritzplatz, die vom Neuen Forum organisiert worden war.

Ein paar Tage später bei der Volkskammerwahl war ich, die bei früheren Wahlen immer eine gültige Nein-Stimme abgegeben hatte, stolze Helferin in einem Wahllokal. Zum gleichen Zeitpunkt habe ich mich Freunden angeschlossen, die den Verein " Memorial Magdeburg " gründeten. Wir organisierten gemeinsam mit dem Bürgerkomitee eine Ausstellung zur Staatssicherheit in Magdeburg im ehemaligen Stasi-Gefängnis und regelten die Anfänge für eine Gedenkstätte. Seit 1992 bin ich hauptamtlich in der Gedenkstätte Moritzplatz Magdeburg tätig, seit 2001 deren stellvertretende Leiterin. ...

Ich bin sehr dankbar, dass unser Mut im Herbst 1989 dazu geführt hat, dass wir heute in einem wiedervereinigten freien demokratischen Deutschland leben können.

Ulrike Groß, Magdeburg ( 1989 27 Jahre alt )