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Jens-Olaf Schawe wurde am 1. November 1989 eingezogen Wie ein Salzwedeler die Grenzöffnung verpasste

Von Peter Hintze 21.10.2009, 04:54

Jahrgangsbester auf dem Volkseigenen Gut in Hundisburg bei Haldensleben, Auszeichnungsreise an den Balaton in Ungarn : Mit dem richtigen Parteibuch in der Tasche hätte der junge Schäfer Jens-Olaf Schawe in der DDR sicher Karriere gemacht. Um studieren zu können, trat der Salzwedeler im stürmischen Herbst 1989 seinen Grundwehrdienst bei den Grenztruppen an – und verpasste so den Fall der Mauer.

Salzwedel. Den mausgrauen Wehrdienstausweis und die dazugehörende Erkennungsmarke hat er heute noch – Jens-Olaf Schawe aus Salzwedel. Die Papiere mit dem Stempel " 01. Nov. 1989 – Grenztruppen der DDR " und dem Bildnis eines völlig übermüdeten jungen Mannes erinnern den gelernten Schäfer an die wohl kurioseste Zeit seines Lebens. Mitten im stürmischen Herbst 1989, als in Leipzig schon Tausende auf die Straßen gegangen waren und lautstark " Wir sind das Volk !" riefen, als Tausende über die grüne Grenze und die Botschaft in Prag der DDR den Rücken kehrten, wurde der Altmärker eingezogen. Er " verpasste " den Mauerfall. Die Euphorie kennt der Ex-Grenzer nur aus dem Fernsehen.

" Ich muss grenzenlos naiv gewesen sein ", erzählt der 40-Jährige. " Ich wusste von den Ereignissen in Prag. Und ich ahnte, dass etwas passieren würde. Nur wie schnell, das war nicht klar. " Jens-Olaf Schawe teilte das Schicksal mit vielen jungen Männern des heruntergewirtschafteten Arbeiter-und-Bauern-Staates.

Nach der Lehre zum Schäfer auf dem Volkseigenen Gut Hundisburg, das neben Obstbau und Imkerei auch eine Schäferei betrieb, sollte er Führungskader werden. " Um die Armee kümmere ich mich. Aber du musst in die Partei, hat mir meine damalige Chefin, die Volkskammerabgeordnete Wiete Bergmann ( Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, FDGB ), gesagt. Nur in welche, ließ sie offen ", schmunzelt der Salzwedeler. " Für meine Eltern kamen nur zwei in Frage – die Bauernpartei und die CDU. Und so bin ich zu Siegfried Schneider gegangen und habe bei den Christdemokraten unterschrieben. "

" Viele meiner

Freunde rutschten

durchs Sieb "

Sehr zum Missfallen der damaligen Chefin, gibt Jens-Olaf Schawe heute unumwunden zu : Sie wollte den jungen Schäfer fördern, hätte ihn aber lieber in der Sozialistischen Einheitspartei gesehen. " Ich wollte studieren ", erinnert sich der heutige Salzwedeler Tierparkleiter. " Doch davor musste ich den Grundwehrdienst abgeleistet haben. " Wohl auch auf das Drängen der Betriebschefin hin, ist Jens-Olaf Schawe überzeugt, sei die Einberufung erfolgt. " Viele meiner Freunde rutschten im Zuge der Wende einfach durchs Sieb ", weiß Jens-Olaf Schawe. " Für die Nationale Volksarmee waren sie damals zu jung, für die Bundeswehr nachher zu alt. "

Rückblende : Es ist der 1. November 1989. Mehrere hundert Leute, schätzt Jens-Olaf Schawe heute, stehen mit gepackten Koffern auf einem Haldenslebener Kasernenhof und warten darauf, dass ihr Name verlesen wird. Und auf die Zuweisung … Sie teilt ein Schicksal : Keiner weiß, wohin und zu welchem Truppenteil die Reise geht.

" Mein Name wurde als letzter verlesen ", berichtet Jens-Olaf Schawe. " Dann bin ich in einen Zug nach Magdeburg gesetzt worden. Dort habe ich einen Kumpel getroffen, der zur Bereitschaftspolizei einberufen worden war. " Von der damaligen Bezirksstadt führt der Weg weiter nach Stendal und Perleberg. Mit einem Lkw geht es zwischen Plattenbauten hindurch zu einem Sammelpunkt. " Wir wurden ringsherum vermessen ", erklärt der Salzwedeler. " Mit einer Laufkarte ging es zum Einkleiden. Mittags war Fasching ", lächelt der Schäfer.

Die jungen Männer – viele noch ohne vorschriftsmäßigen Haarschnitt – probieren Einstrichkeinstrich-Uniformen

und Knobelbecher an. " Nachdem wir erneut aufgeteilt wurden, war nur noch ein kleiner Kreis übrig geblieben ", sagt Jens-Olaf Schawe. " Dann hieß es ‚ Aufsitzen ‘. Auf der Pritsche eines W 50 ging es in unbekannte Richtung weiter. Die Plane war runtergelassen worden. " Ortsschilder kann der junge Mann nicht erspähen. Erst bei Enbruch der Dunkelheit erreicht der DDR-Lkw sein Ziel – die Hundeführerschule der Grenztruppen in Sarow in der Nähe von Potsdam.

" Hundeführer – das war etwas ", schwärmt Jens-Olaf Schawe. Mit Hunden kennt er sich aus – seines Berufs wegen. " Der Tagesablauf war geregelt, das Austreten eingeschlossen. Wir wurden mächtig auf Trab gehalten ", erinnert sich der 40-Jährige. In dem Objekt mitten im Wald südwestlich Berlins ist die junge Truppe von Informationen buchstäblich abgeschlossen. Radios, die vielleicht den Empfgang von Rias-Nachrichten aus dem Westen Berlins ermöglichen könnten, sind nicht erlaubt. " Die ‚ Aktuelle Kamera ‘ ( Nachrichtensendung des DDRFernsehens, d. Red. ) war keine Pflichtveranstaltung mehr ", berichtet der Salzwedeler.

Auf die Zehn-Mann-Stube kommen das Parteiorgan der Einheitspartei, das " Neue Deutschland ", oder die Jugendzeitung " Junge Welt " nur noch sporadisch. " Mal fehlten Seiten. Mal kam die Zeitung nicht ", weiß Jens-Olaf Schawe. " Eine Erklärung wurde nicht gegeben. In Sachen Aktuelle Kamera hieß es nur, es sei nicht mehr so wichtig. "

Hinter dem großen Blechtor und hinter dicken Mauern üben die jungen Grenzer selbst an jenem 9. November 1989. Vom Trubel auf den Berliner Straßen bekommen die Soldaten – bis auf die Ausbilder – nichts mit. Zwei Tage später soll militärisch exakt die Vereidigung stattfinden. " Irgendwas war im Busch ", glaubt Jens-Olaf Schawe heute zu wissen. " Aber keiner konnte sagen, was. " Im Dunkeln darüber gelassen, dass rund um das Brandenburger Tor schon Mauerspechte werkeln, exerzieren die künftigen Hundeführer in Ausgehuniform, Stahlhelm, Stiefeln am 11. November, dem Tag, an dem sie den Fahneneid schwören sollen.

" An dem Tag wurde das Objekt für Gäste geöffnet. Wir marschierten in Formation, als die ersten Ikarus-Busse kamen ", entfährt es Jens-Olaf Schawe. " Hinter den Fenstern waren die Leute aus dem Häuschen. Ich meine, gehört zu haben : ‚ Ihr könnt euch nicht vorstellen, was draußen los ist. ‘" Unbeirrt wird die festliche Veranstaltung durchgezogen. Wenig später darf der Uniformierte seine damalige Partnerin und die Mutter in die Arme schließen. Sie erzählen, dass die Grenzen offen sind. " Aber das war mir egal ", erinnert sich der Altmärker. Froh, seine Liebsten in die Arme schließen zu dürfen, und wehmütig, als sie wieder mit dem Zug zurückfahren sollen, bringt er sie zum Potsdamer Hauptbahnhof. " Da war die Hölle los ", sagt der damalige Soldat. " Alle wollten nach Berlin, meine Mutter nach Hause und ich bin wieder in die Kaserne. " Mit allen Folgen und Dienst nach Vorschrift.

" Meine 100 Mark

habe ich mir in

Helmstedt geholt "

" Das erste Mal im Westen war ich während meines Weihnachtsurlaubs 1989 ", schildert Jens-Olaf Schawe. An den Stempel ( Visum ) im Personalausweis zu kommen, sei ein Abenteuer für sich gewesen. " Wir sind mit dem Wehrdienstausweis nach Hause geschickt worden, mit der Maßgabe, uns beim zuständigen Volkspolizeikreisamt zu melden, das Visum eintragen zu lassen und dann den Ausweis in der Kaserne vorzulegen ", erinnert sich der Salzwedeler.

Jens-Olaf Schawe tat, was ihm aufgetragen worden war. Er fuhr nicht in den Westen, nachdem er den Stempel hatte. Ergebnis : Der Ausweis wurde in Potsdam eingezogen. Bis kurz vor Weihnachten. " Als es hieß, es werde nicht mehr lange Begrüßungsgeld gezahlt, durften auch wir los ", sagt der Altmärker. " Meine 100 Mark habe ich mir in der Post in Helmstedt geholt. "

Nach der Grundausbildung dürfen Jens-Olaf Schawe und der ihm zugeteilte Deutsche Schäferhund " Astor vom Herrenkrug ", ein ausgebildeter Schutzhund, an die sich auflösende deutsch-deutsche Grenze bei Morsleben. Heimatnah ist er dem Grenzbataillon Weferlingen unterstellt. Obwohl im Januar 1990 schon längst Moped- und Fußspuren den Zehn-Meter-Streifen durchziehen, läuft Jens-Olaf Schawe in Begleitung eines Unteroffiziers Patrouille. " Naja, es war eher ein Spazierengehen ", schmunzelt der Schäfer heute über die letzten Tage der DDR.

In Schwanefeld hat er den antifaschistischen Schutzwall, den er eigentlich bewachen sollte, mit abgebaut. " Das war harte Arbeit ", erinnert sich der Altmärker, der am 30. September 1990 seine Entlassungspapiere in Empfang genommen hat.