1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. "Wir fingen bei Null an"

Neuanfang im Westen "Wir fingen bei Null an"

Ossis im Westen, Wessis im Osten - wie kommen sie klar? Gemeinsam mit der Braunschweiger Zeitung stellt die Volksstimme in loser Folge Menschen vor, die nach der Wende "rüber" sind. Heute: Der Magdeburger Oliver Kriegel, der nach Niedersachsen ging.

Von Andre Dolle 04.11.2014, 01:09

Vechelde l Oliver Kriegel stand im Januar 1990 vor einer Wegscheide. Seinen Wehrdienst bei der NVA hatte er gerade beendet. Er hatte die Wahl: Zurück ins Autobahnbau-Kombinat nach Magdeburg oder etwas ganz Neues starten. "Ich habe gedacht, dass ich im Westen eher mein Glück finde als im Osten", sagt der heute 45-Jährige.

Selbst seine Familie und seine Freunde rieten ihm, "rüberzumachen". Kriegel war als gelernter Baumaschinenführer ein Facharbeiter. Die werden auch im Westen gesucht, dachte er sich. "Der Westen erschien verlockender, ich ergriff die Chance", sagt Kriegel. Die Situation empfand er damals auch im Osten als ungewiss. Kriegel: "Ich wusste ja nicht, was aus meinem Kombinat werden würde, was mit dem Staat DDR passiert." Bereut hat er seinen Schritt nie, wie er sagt.

"Die dachten, eine Ausbildung im Osten sei kaum etwas wert."
Der Anfang war schwer, vor allem materiell. Als er im Westen ankam, hatte er so gut wie nichts. "Meinen Geburtstag im Oktober 1990 habe ich im Wohnzimmer auf dem Fußboden gefeiert", erinnert sich Kriegel. Möbel besaß er nicht. Heute wohnt Kriegel mit seiner Frau Katrin und seinem Sohn Mika Finn im schicken Reihenendhaus im Dorf Wedtlenstedt, einem Ortsteil Vecheldes im Landkreis Peine. Vor der Tür steht ein schwerer Mercedes.

Kriegel, jugendlich mit rotem T-Shirt und blauer Jeans gekleidet, erzählt von der Aufbruchstimmung, die er damals verspürte. Im Wohnzimmerlicht funkelt sein Ohrstecker.

In Bröckel im Kreis Celle wohnten Freunde seiner Eltern. Kriegel fand schnell einen Job als Baumaschinenführer. Er wurde etwas belächelt. "Die dachten, eine Ausbildung im Osten sei kaum etwas wert", sagt er. Doch Kriegel verschaffte sich mit seiner Zielstrebigkeit schnell Respekt. Obwohl sich seine Welt von einem auf den anderen Tag komplett veränderte, empfand er die Zeit nicht als Wirrwarr. Kriegel: "Mir war schnell klar, was ich wollte." Sein beruflicher Ehrgeiz trieb ihn an. Den Mann haut so schnell nichts um. Das muss er schon in die Wiege gelegt bekommen haben. Seine Mutter wurde 1945 geboren, da befand sich die Familie gerade auf der Flucht aus Schlesien.

Im August 1990 kam seine Jugendliebe Katrin, seine heutige Frau, nach. Kriegels Frau arbeitet heute als Vorstandssekretärin, er als technischer Berater einer Behörde. Für die beiden ging es immer aufwärts. Kriegel bildete sich mehrmals fort. Er gab seinen Job als Baumaschinenführer auf, machte seinen Techniker und arbeitete im Tiefbau. Als Kriegel erkannte, dass die Baubranche um die Jahrtausendwende bedenklich schwächelte, sattelte er erneut um zum Betriebsinformatiker.

Den Mauerfall, den Tag, der das Leben von Oliver Kriegel auf den Kopf stellen sollte, verschlief er regelrecht. Er war als Wehrpflichtiger in Preschen bei Cottbus an der polnischen Grenze stationiert. "Erst am nächsten Morgen haben wir mitbekommen, was passiert ist", sagt Kriegel. Er wusste damals nicht, ob er nach Berlin abkommandiert wird. "Es war aber relativ schnell klar, dass die Grenzöffnung nicht mehr rückgängig zu machen war, was hätten wir da in Berlin tun sollen?"

Nun lebt Kriegel seit 24 Jahren in Wedtlenstedt. Es ist der Großteil seines Lebens. Längst ist er hier angekommen, fühlt sich heimisch, wie er sagt. Sein Sohn spielt im Ort Fußball, Kriegel hat viele Freunde. "Ich fühle mich integriert. Das kann in einem Dorf schon mal schwierig werden, war es bei uns aber nicht." Mit Vorurteilen aufgrund seiner Herkunft sei er nie konfrontiert worden.

"Ich fühlte mich auch nicht eingeengt. Wir kannten nichts anderes."
Dennoch vermisst Kriegel ein paar Dinge, die er in der DDR zu schätzen gelernt hat. "Mir fehlt eine gewisse Geborgenheit. Da war mehr gesellschaftlicher Zusammenhalt in der DDR." Kriegel denkt da wie viele ehemalige DDR-Bürger. "Es gab mehr Gemeinschaft unter den Arbeitskollegen, der Sport war das Aushängeschild des Staates und somit besser durchorganisiert. Selbst in kleineren Städten gab es Kadertrainer. Heute ist man froh, wenn man Ehrenamtliche findet." Kriegel vermisst zudem die in der DDR gut ausgebaute Kinderbetreuung. "Heute kostet alles Geld, die Schulbildung kostet Geld, Kinder kosten Geld", so Kriegel. Er erkennt eine soziale Kälte, eine Ellbogenmentalität, die es so in der DDR nicht gegeben habe.

Einen Mangel empfand Kriegel in der DDR nicht, sagt er. "Wir hatten West-Fernsehen. Da denkt man schon mal, diese oder jene Süßigkeit hätte ich gerne. Vielleicht mal eine Jeans oder ein bestimmtes T-Shirt, ja, aber sonst? Ich fühlte mich auch nicht eingeengt. Wir kannten nichts anderes. Im Urlaub ging es mit den Eltern nach Ungarn. Das kam mir im Auto auch vor wie eine Weltreise."

"Ich fühle mich als Deutscher."
Ob Junge Pioniere, Thälmann-Pioniere oder die Freie Deutsche Jugend (FDJ) - für Kriegel war die DDR straffer organisiert. Eine Sache gab es, die ihn besonders genervt hat: "Ab der 9. Klasse musste ich jedes Jahr zur Wehrerziehung, einer Art vormilitärischer Ausbildung. Der Umgangston der Vorgesetzten war sehr gewöhnungsbedürftig."

Mit dem DDR-System stand Kriegel als junger Erwachsener nicht auf Kriegsfuß. "Man läuft halt mit. Jeder, der jetzt sagt, ich hätte mich gewehrt, dem entgegne ich: `Ihr hättet gar keine Chance gehabt, aufzubegehren`."

25 Jahre nach dem Mauerfall fühlt sich der Wedtlenstedter nicht als Ossi, aber auch nicht als Wessi. Die Zeiten, in denen man dermaßen trenne, gehörten der Vergangenheit an. "Ich fühle mich als Deutscher", sagt Kriegel. Frotzeleien seien vollkommen okay. Die müssten aber auch ein Bayer oder ein Ostfriese ertragen.

Für die Zukunft hat Kriegel einige Wünsche parat. "Ich möchte weiter in Frieden leben." Dazu zählt für Kriegel auch der soziale Frieden sowie die soziale Gerechtigkeit, wie er sagt: "Ich wünsche mir, dass mein Sohn in 25 Jahren so ein gutes Leben führen kann, wie wir es jetzt führen können - nicht mehr, aber auch nicht weniger."