1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. "Für meine Eltern bin ich der Wessi"

Ein Magdeburger in Peine "Für meine Eltern bin ich der Wessi"

Von André Dolle 19.11.2014, 01:12

Peine l Als Matthias Pfarrdrescher die Filmkomödie "Sonnenallee" schaute, da waren sie schnell wieder gegenwärtig, die Erinnerungen an die DDR. Klar, der Film überzeichnet den Alltag im Arbeiter-und-Bauern-Staat. Aber es kommt auf die Details an: "Den Multifunktionstisch, den hatten wir auch." Pfarrdrescher buchstabiert: "M-U-F-U-T-I." So hieß der Tisch umgangssprachlich. "Das Sofa aus dem Film hatten wir auch."

Wie dem 36-Jährigen, der heute in Wedtlenstedt im niedersächsischen Landkreis Peine lebt, geht es wohl vielen in seinem Alter, die in der DDR aufgewachsen sind. Sie haben mit der Wende eine Umbruchzeit erlebt, in der sie und ihre Familien zwar plötzlich mehr Freiheit hatten, sie verspürten aber auch eine gewisse Portion Unsicherheit.

Pfarrdrescher war am Tag des Mauerfalls, dem 9. November 1989, elf Jahre alt. Seine Erinnerung an diese bewegte Zeit, an die DDR, in der er den Großteil seiner Kindheit verbrachte, verblasst. Der Software-Entwickler überlegt lange und sagt: "Das ist schon so lange her. Ich will nichts Falsches sagen." Dann kommen sie doch allmählich hoch, die Erinnerungen. "Ich war stolz, Jungpionier und danach Thälmann-Pionier zu sein." Pfarrdrescher will das richtig verstanden wissen. Das sei eher eine Art Stolz, wie sein Sohn Finn sie empfinde, wenn er seinen örtlichen Fußballverein repräsentiere.

Pfarrdrescher wohnte damals mit seiner Familie in einem Plattenbau im Magdeburger Stadtteil Neu-Olvenstedt. Seine Mutter arbeitete als Verkäuferin, sein Vater im Rechnungswesen. Den Mauerfall bekam er erst gar nicht so richtig mit. Pfarrdrescher wunderte sich, dass am nächsten Tag von 30 Schülern seiner Klasse nur er und neun weitere da waren. "Am Nachmittag haben wir zu Hause Westfernsehen geschaut und erst einmal gestaunt." Er habe die Ereignisse schon als besonders wahrgenommen, konnte sie aber noch nicht so recht einordnen. "Die Bilder, wie die Leute nachts auf der Berliner Mauer saßen, habe ich aber noch ganz deutlich vor Augen."

Die Veränderungen machten sich nach der Wende nicht nur im Schulsystem, sondern vor allem im Konsumverhalten bemerkbar. Pfarrdrescher: "Als die ersten bunten Laster vor der Kaufhalle standen, habe ich gestaunt. Da lag dann plötzlich die Bravo in der Auslage." Bald danach hatten die Pfarrdreschers Telefon, dann Kabelfernsehen. Das Begrüßungsgeld holte die Familie in Braunschweig ab. Pfarrdrescher: "Wir sind gleich im Anschluss ins Kaufhaus, ich bekam einen Kassettenrecorder, mein Bruder ein ferngesteuertes Auto."

Pfarrdrescher erklärt, dass ihm durchaus bewusst war, dass Deutschland ein geteiltes Land war. "Ich war aber zu sehr Kind, um vom Klassenfeind hinter der Grenze zu denken." Den einzigen Kontakt zum Westen hatte seine Oma. Die fuhr einmal pro Jahr nach Hannover und besuchte die Westverwandtschaft.

Seine Ehefrau Tina, die als Zahntechnikerin arbeitet, hätte er ohne Mauerfall nie bei gemeinsamen Freunden in Wolfenbüttel kennenlernen können. "Ohne die deutsche Einheit hätte es ihn nicht gegeben, sagen wir unserem Sohn Finn manchmal", erklärt Pfarrdrescher.

Seine Eltern, die in Magdeburg wohnen, frotzeln, wenn Pfarrdrescher sie besucht. Sie sagen: "Da kommt der Wessi." Als Wessi fühlt sich Pfarrdrescher nicht, obwohl er schon lange in Niedersachsen wohnt: Seit 2000 in Salzgitter, dann in Wolfenbüttel und nun im Kreis Peine. "Ich bin ein Wossi", sagt Pfarrdrescher. Eigentlich spielt das für ihn aber keine große Rolle: "Wir leben doch schon so lange in einem Land."

Der studierte Elektrotechniker steht mit seiner Frau Tina sinnbildlich für die deutsche Einheit, auch wenn es eher der Zufall war, der Pfarrdrescher in unsere Region führte. Auf einer Bewerbermesse hinterließ er an einem Siemens-Stand seine Unterlagen. Von der Siemens-Niederlassung in Salzgitter wurde er dann zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen und blieb bis heute in Niedersachsen. In seiner Abteilung bei seinem Arbeitgeber VW ist er längst nicht der einzige, der aus dem Osten stammt. Von seiner Mutter lässt er sich die geliebten Schoko-Knusperflocken in der goldgelben Tüte besorgen, ein Ostprodukt. "Da freuen sich meine Arbeitskollegen auch immer drauf." Ansonsten spielt die DDR keine große Rolle mehr in seinem Leben, sagt Pfarrdrescher. "Finn erzähle ich höchstens mal von Pittiplatsch oder Schnatterinchen, den Figuren aus dem Sandmännchen."

Wenn er sich eins wünschen dürfe, sagt Pfarrdrescher, dann dies: "Der Begriff ,Zone` gehört abgeschafft." Dieser sei negativ besetzt. Pfarrdrescher: "Dabei gibt es doch immer weniger Unterschiede zwischen Ost und West."