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Stasi-Sturm Das Ende von Schild und Schwert

15.01.2015, 01:12

Vor 25 Jahren stürmten DDR-Bürger die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Berlin. Die Aktion war ein Meilenstein der Wende in der DDR. Der Bürgerrechtler Carlo Jordan berichtet im Volksstimme-Gespräch von seinen Erlebnissen am 15. Januar 1990. Das Interview führte Jörn Wegner.

Volksstimme: Herr Jordan, warum haben Sie am 15. Januar 1990 die Stasi-Zentrale gestürmt?
Carlo Jordan: Es gab damals einen Aufruf des Neuen Forums, die Zentrale zuzumauern und damit die endgültige Abwicklung einzufordern. Die Demo sollte zur selben Zeit wie der Zentrale Runde Tisch stattfinden, der schon im Dezember die Auflösung des MfS beschlossen hat. Wir erhielten immer wieder Berichte über den Fortschritt der Abwicklung. Da wir auch erfahren hatten, dass noch Tausende Waffen in der Stasi-Zentrale waren, kam am Runden Tisch die verständliche Sorge auf, dass die Sache aus dem Ruder laufen könnte. Wir haben dann über das Fernsehen einen Aufruf zur Gewaltfreiheit an die Demonstranten gerichtet.

Warum sind Sie selbst vom Runden Tisch zur Stasi-Zentrale gefahren?
Wegen der Waffen wirkte die Situation sehr bedrohlich. Wir haben die Nachrichten verfolgt und uns schließlich entschlossen, den Runden Tisch in Niederschönhausen abzubrechen und selbst zur Stasi-Zentrale in Lichtenberg zu fahren. Dasselbe haben auch Mitglieder der Modrow-Regierung getan.

Hatten Sie angesichts der Waffen keine Angst?
Das war alles sehr unübersichtlich. Die Regierung Modrow versuchte trotz Auflösungsbeschluss einen Teil des Ministeriums zu erhalten. Erst als Amt für Nationale Sicherheit und dann als Verfassungsschutz. Wir haben auch Informationen bekommen, dass einige Bezirksverwaltungen gegen die Modrow-Regierung und den Runden Tisch putschen könnten. Zur selben Zeit wurden die Neonazis in der DDR immer stärker. Die Schändung des sowjetischen Ehrenmals in Treptow führte wiederum zu Aufrufen der Antifa und anderer Gruppen. Für uns war es nicht so ganz klar, ob das jetzt gezielte Provokationen der Staatssicherheit sind, um zu zeigen, dass ohne sie die Neonazis Oberwasser gewinnen.

Wollten die Demonstranten nur den Spitzel-Apparat der Stasi abschaffen oder komplett jeden Sicherheitsdienst?
Mein Eindruck war, dass die Mehrheit der Meinung war, dass es überhaupt keine Geheimdienste mehr geben soll. Aber hinter der Idee, die Stasi zuzumauern, stand ja noch etwas anderes: Die MfS-Leute sollten die Akten nicht an den Bundesnachrichtendienst verkaufen. Das war ja bekanntlich nicht ganz erfolgreich. Die Bundesregierung hat zum Beispiel die Rosenholz-Datei Jahre später von US-Geheimdiensten erhalten. Ursprünglich waren das Stasi-Dokumente. Da haben einige MfS-Mitarbeiter wahrscheinlich einen sehr guten Schnitt gemacht.

Wurde das Zumauern als Symbolaktion genommen oder haben die Demonstranten geglaubt, Akten und Mitarbeiter einmauern zu können?
Das Einmauern haben viele ernst genommen. Ich habe einen Bauunternehmer kennengelernt, der für die Aktion Mauersteine herangeschafft hat. "Kommt mit Fantasie und Ziegelsteinen", stand auf den Plakaten. Anfangs wurde wirklich eine kleine Mauer errichtet.

Wie kam es dazu, dass die Leute aufgehört haben zu mauern und die Gebäude gestürmt haben?
Das war die pure Masse. Es wurde immer voller, und die Demonstranten haben von hinten gedrückt. Schließlich sind immer mehr Menschen auf das Gelände selbst vorgedrungen, nachdem ein Pfarrer aus Thüringen das Tor geöffnet hat. Die Leute hatten Mut gesammelt. Denn eigentlich wurde die Stasi von ihrem Wachregiment "Feliks Dzierzynski" bewacht. Doch das war im Januar 1990 schon aufgelöst. Die Bewachung hatte die Volkspolizei übernommen. Die haben das aber nicht besonders ernst genommen und sich dem Sturm nicht entgegengestellt.

Was wollten die Leute? Wollten sie ihre Akten sehen?
Das kann man nicht so genau sagen. Viele wollten nur die verbotene Stasi-Stadt in Augenschein nehmen. Das sind 50 riesige Gebäude mit kilometerlangen Gängen und ganzen Türmen, in denen die Archive waren. Da kannte sich auch von uns niemand aus. Wenn wir früher verhaftet wurden, kamen wir nie in die Normannenstraße. Ich wurde immer gegenüber in die Magdalenenstraße gebracht - die "kalte Magdalene".

Wie war das, zum ersten Mal in der "verbotenen Stadt"?
Ich hatte damals die Idee zu einer Stalinismus-Forschungs- und Gedenkstätte, zur Aufbewahrung der Akten und für die Rehabilitierung der Opfer. Für mich war es das Motiv, dass ich dort weiter durchs Haus gelaufen bin. Auf dem Weg zu Mielkes Büro standen Wolfgang Templin und ich dann plötzlich in einer Vorhalle: Büsten von Marx, Dzierzynski, unheimlich viele Fahnen. Das hat mich alles an einen Ort erinnert, den ich von meinen Sowjetunion-Reisen kannte: Gori, Stalins Geburtsort in Georgien. Dann haben wir gesehen, dass die Diensträume von Mielke von der Militärstaatsanwaltschaft versiegelt waren. Wir hatten gar nicht daran gedacht, das Siegel zu brechen und einfach mal hineinzugehen. Wir standen einfach nur davor und haben uns gedacht: "Aha, das ist also das Büro von Mielke".

Es waren ja in Mielkes Zentrale noch Mitarbeiter der Stasi anwesend ...
Ja, wir haben dort Heinz Engelhardt getroffen, einen der hochrangigsten Stasi-Generäle. Der war auch nicht unvorbereitet. Die Stasi hatte das Gelände verdunkelt, wie im Zweiten Weltkrieg. Engelhardt saß mit zugezogenen Gardinen am Tisch, hatte nur eine ganz kleine Lampe an und guckte Fernsehen. Als wir kamen, sagte er nur: "Da sind Sie ja endlich, meine Herren."

Warum die Verdunkelung?
Engelhardt hatte nur unbedeutende Gebäudeteile ausgeleuchtet, die wichtigeren Gebäude, Archive und Auslandsspionage, waren dunkel. Da die Leute die "verbotene Stadt" nicht kannten, sind sie dem Licht hinterher und dadurch in die riesige Kantine gekommen, die sie gleich geplündert haben. Die Stasi-Mitarbeiter hatten dort eigene Läden mit einem besseren Angebot als draußen. Die Leute haben sich dort eingedeckt. In die meisten wichtigen Gebäude sind sie dadurch nicht vorgedrungen.

Worüber haben Sie mit dem Stasi-Offizier gesprochen?
Ich habe ihn zum Beispiel gefragt, was er nach der Entlassung machen will. Er sagte, er habe noch einen ordentlichen Beruf gelernt, nämlich Autolackierer. Tatsächlich hat er später ein Reisebüro aufgemacht. Wir hatten uns bei den Grünen oft darüber Gedanken gemacht, wie wir die Stasi-Leute integrieren. Als Bauingenieur habe ich besonders an die Eigenbaubetriebe gedacht. Die erste Idee war, die Betriebe im Umweltschutz einzusetzen. Und dann wollten wir ein Integrationsprogramm, damit die Mitarbeiter nicht einfach zu anderen Geheimdiensten überlaufen. Die MfS-Leute hatten einen Vorteil gegenüber der Masse der DDR-Bürger. Sie sind so früh arbeitslos geworden, dass sie noch Chancen auf dem Arbeitsmarkt hatten oder sich selbständig machen konnten. Die Massenarbeitslosigkeit kam ja erst mit der D-Mark.

Filmaufnahmen aus der Zeit zeigen vor allem Chaos und Verwüstungen. Wie ist das entstanden?
Bei den Verwüstungen konnte man schon damals nicht sagen, ob die schon dagewesen waren oder nicht. Ob es die Demonstranten oder das MfS selbst war, wusste niemand. Ich selbst habe nicht erlebt, dass irgendwer eine Tür aufgetreten hat oder Sachen durchs Treppenhaus flogen. Trotzdem haben wir zusammen mit der Modrow-Regierung das Wort ergriffen und zur Gewaltfreiheit aufgerufen. Ich war mit Wolfgang Templin in den Gängen unterwegs. Wir haben dort nichts mitgenommen, keine Akten und auch keinen kleinen Dzierzynski.

Was sollte nach der Auflösung mit den Hinterlassenschaften der Stasi geschehen?
Unser Ziel war es ja, für die Rehabilitierung der Opfer die Akten zu erhalten und in einem Archiv unterzubringen. Das war am Runden Tisch fast unumstritten. Da gab es nur Ibrahim Böhme von der SPD, alias IM Maximilian, der meinte, dass wir dann aber viele Psychologen bräuchten.

Ist es richtig, dass die Akten heute bei der Stasiunterlagenbehörde liegen und nicht im Bundesarchiv?
Ich bin für die Weiterführung der Möglichkeit zur Akteneinsicht. Die Variante Bundesarchiv hätte damals bedeutet, dass die Akten gesperrt gewesen wären. Allerdings ist die Sperrfrist beim Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv auch aufgehoben. Jetzt muss man sehen, wie sich der politische Mehrheitswille bis 2019 entwickelt. Der wissenschaftlichen Erfassung der Akten ist derzeit nicht allzuweit gedient. Im Bundesarchiv gibt es Findbücher, bei der Jahn-Behörde nicht.

Was hieß die Auflösung der Stasi für Sie persönlich?
Der für mich zuständige Stasi-Offizier hat in der Auflösungszeit seinen Abschlussbericht über mich verfasst. Dort hieß es, dass meine Beobachtung eingestellt werden könne, weil meine Aktivitäten nicht gegen die Verfassung der DDR gerichtet waren. Mein erster Gedanke war, dass der beim DDR-Verfassungsschutz seine Stelle sichern wollte. Früher spielte die Verfassung nie eine Rolle, bei Vernehmungen wurde ich nie als Verfassungsfeind verhört.

Wie sollte man mit den Tätern von damals umgehen? Soll man ihnen im Sinne der damaligen Grünen Partei eine Chance geben?
Das war bezogen auf die Masse der Mitarbeiter. Es waren ja 91000 Hauptamtliche. Heute sind die meisten Straftaten verjährt. Insgesamt wurden nur drei Stasi-Leute zu Haftstrafen verurteilt. Einer davon war Mielke, und der wegen eines Mordes im Jahr 1931 an zwei Polizisten. Letztlich kam in der friedlichen Revolution niemand ums Leben, keiner hat geschossen. Ich fand es zum Beispiel nicht in Ordnung, dass zur Feierstunde in Leipzig zwar Kurt Masur und viele Oppositionelle eingeladen wurden, nicht aber diejenigen aus der SED, die damals dafür gesorgt haben, dass nicht geschossen wurde. Die sind ein hohes Risiko eingegangen, die hätten von den eigenen Genossen auch wegen Hochverrats an die Wand gestellt werden können.

"Wir sind das Volk" ist heute wieder ein Slogan auf Demonstrationen. Im Dezember gab es den ersten Aufruf von Bürgerrechtlern, der sich in deutlichen Worten gegen "Pegida" wandte.
Ich fand den Aufruf gut und hätte ihn auch unterschrieben. Wir haben damals übrigens schon früh den Slogan "Wir sind ein Volk" verwandt, und der bedeutete anfangs keineswegs ein Bekenntnis zur deutschen Einheit. Das war integrativ gedacht, wir sind alle ein Volk: auch Stasi-Mitarbeiter und SED-Mitglieder, also der umgekehrte Gedanke dessen, was heute unter diesem Slogan ausgrenzend gefordert wird.