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Umfrage Was der Westen vom Osten lernt

Den Ostdeutschen - es gibt ihn noch. Er fühlt sich mehr im Wohnort als in Deutschland zu Hause, trauert noch etwas dem Sozialismus nach und wünscht sich mehr direkte Demokratie. Aber seine Wertvorstellungen gleichen sich zunehmend gesamtdeutsch an - vor allem bei den Jüngsten.

Von Oliver Schlicht 19.02.2015, 07:30

Berlin l Knapp 2000 Deutsche ab 14 Jahre hat das Umfrageinstitut "infratest dimap" im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums im Herbst 2014 befragt, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten in Ost und West herauszufinden. In Verbindung mit älteren Umfragen haben Wissenschaftler - federführend von der Luther-Universität Halle - der deutschen Seele den Puls gefühlt.

Gestern wurde die Studie in Berlin vorgestellt. 25 Jahre nach der Wiedervereinigung zeigt sich, dass sich bestimmte politische und gesellschaftliche Überzeugungen vor allem bei älteren Ostdeutschen zwar standhaft halten - aber zunehmend auch gesamtdeutsch angleichen. Oder umgedreht: Der Westen folgt dem Osttrend.

"Unrechtsstaat" bleibt umstritten

Zum Beispiel Arbeit und Frau: Ostdeutsche Männer standen der modernen Frauenrolle in der Arbeitswelt schon 1991 eher zustimmend gegenüber. Im Westen hat sich diese Haltung inzwischen ähnlich herausgebildet. Antworten auf entsprechende Fragen haben sich weitgehend angeglichen.

Stichwort Bevorzugung der "Direkten Demokratie". Laut Umfrage halten zwar Ost- (82 Prozent) wie Westdeutsche (90 Prozent) die Demokratie für die beste Staatsform. Aber die direkte Demokratie (Mitspracherecht, Volksbefragung) fand im Osten schon 1991 mehr Zustimmung (67 Prozent) als die repräsentative Demokratie des Parlaments (18 Prozent). In den alten Bundesländern nahm die Vorliebe für eine direkte Demokratie seit 1991 deutlich zu, nämlich von 47 auf 60 Prozent. In Ostdeutschland blieb die Zustimmung stetig auf dem 1991 gemessenen Niveau - aktuell 66 Prozent.

Vier Fünftel im Osten wie im Westen des Landes sind sich gleichermaßen darin einig, dass die Wiedervereinigung für Deutschland als Ganzes vorteilhaft war. 70 Prozent der Ostdeutschen sind überzeugt, dass das politische System der DDR eine Diktatur war. Trotzdem findet nicht einmal die Hälfte (46 Prozent) der Ostdeutschen, dass die DDR ein "Unrechtsstaat" war. Diese Zurückhaltung erklären die Wissenschaftler in der Studie psychologisch: Viele Ostdeutsche fürchten wohl, mit dem Begriff "Unrechtsstaat" Teile ihrer eigenen Biografie zu entwerten.

Knapp 60 Prozent der Ostdeutschen glauben aktuell laut Umfrage, dass der Sozialismus im Grunde eine gute Idee sei, die nur schlecht ausgeführt wurde. Etwa ein Drittel der Befragten teilt die Einschätzung, dass Sozialismus und Demokratie gut vereinbar seien.

Gibt es im Osten mehr Sympathie für rechtsgerichtete Parolen als im Westen? Keineswegs, urteilt die Studie. Die Antwort auf die Frage, ob Ausländer bei Arbeitsplatzmangel ausgewiesen werden sollen, fällt im Osten wie im Westen ablehnend aus. Hier haben sich die Werte zunehmend angeglichen. Es gebe allerdings bis 2012 einen leichten Stimmungsumschwung zu mehr Zustimmung - im Westen mehr als im Osten. Bei Antworten auf Fragen zu den Themen Antisemitismus, Sozialdarwinismus (unwertes Leben) oder dem Wunsch nach autoritärer Führung des Staates gab es keine nennenswerten Unterschiede zwischen Ost und West. Extreme Positionen werden gleichermaßen mehrheitlich abgelehnt.

Die wirtschaftliche Lage in Deutschland wird aktuell in Ost wie West positiv wahrgenommen. Die ökonomische Zukunft beurteilt der Osten sogar etwas optimistischer. Die allgemeine Lebenszufriedenheit liegt insgesamt auf einem einheitlich hohen Niveau und unterscheidet sich zwischen Ost und West nur gering. Die Anteile der "eher" und "sehr Zufriedenen" liegen mit 83 Prozent im Westen und 76 Prozent im Osten sehr hoch.

Und trotzdem: Fast drei Viertel der Westdeutschen, aber nur knapp die Hälfte der Ostdeutschen fühlt sich gegenwärtig in der Bundesrepublik "politisch zu Hause". Bei dieser Einschätzung klafft im Osten allerdings eine gewaltige Generationskluft: 64 Prozent der 14- bis 29-Jährigen im Westen und 65 Prozent derselben Altersgruppe im Osten sehen in der Bundesrepublik ihre politische Heimat.

Auch bei der Sicht auf die DDR unterscheiden sich die Einschätzungen der über 35-Jährigen von den unter 35-Jährigen - die wohlgemerkt die DDR überwiegend nur vom Hörensagen kennen. So finden die jungen Ostdeutschen, dass es jetzt sozial gerechter zugeht (48,4 Prozent) und einen besserer Schutz vor Verbrechen (42,9 Prozent) gibt.

Unterschiedliche regionale Verbundenheit

Unterschiede zwischen jungen und älteren Ostdeutschen werden auch in der regionalen Verbundenheit deutlich. Bei der Altersgruppe der 14- bis 29-Jährigen gibt es zum Westen kaum noch Differenzen. In beiden Landesteilen ist die Verbundenheit mit dem Bundesland höher als mit dem örtlichen Wohnumfeld. Es folgt der Wohnort gleichauf mit Gesamtdeutschland, und erst an vierter Stelle Ostdeutschland. Die älteren Ostdeutschen fühlen sich am stärksten mit ihrem Wohnort verbunden, gefolgt von Bundesland, Ostdeutschland und Gesamtdeutschland. Die Verbundenheit mit Ostdeutschland ist bei den älteren Ostlern größer als mit Gesamtdeutschland. Gleichwohl liegt der Anteil derer, die sich im Osten stark oder sehr stark mit Deutschland identifizieren, mit 68 Prozent nur unwesentlich unter den 72 Prozent in Westdeutschland.

Bei der Mediennutzung gibt es in der jungen Generation in Ost wie West eine deutliche Hinwendung zum Internet. Trotzdem ist die Tageszeitung nach dem Fernsehen in Ost (21 Prozent) wie West (24 Prozent) das zweitwichtigste Informationsmedium. Im Osten (66 Prozent) ist die Regionalzeitung beliebter als im Westen (58 Prozent). Sie ist bei mehr als die Hälfte der über 30-Jährigen die beliebteste Zeitung zur politischen Information. Interessant: Unter den Lesern mit Haupt- und Realschulabschluss kommt die Regionalzeitung auf eine Beliebtheit von 73 und 72 Prozent. Die BILD-Zeitung erreicht hier laut Umfrage aktuell 4 und 10 Prozent.