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Die neue Pflegereform ist auf Dauer nicht finanzierbar, zahlen müssen die Jungen Je älter, desto kranker, desto teurer?

Von Dana Micke 30.06.2008, 14:56

Magdeburg. Auf die Pflegereform hagelt es Kritik, bevor sie eingeführt ist, weil sie auf Dauer nicht finanzierbar ist. Die Geburtenzahl bewegt sich auf anhaltend niedrigem Niveau, die höhere Lebenserwartung gepaart mit den großen Geburtenraten der 1960er und 70er Jahre lassen die Zahl der Pflegebedürftigen drastisch steigen. Die Szenarien sind vielfältig. Es ist eine Rechnung mit Unbekannten, die auf jeden Fall hoch sein wird. Zahlen müssen die Jungen.

Der Bundesrat hat die Pflegeversicherungsreform im April gebilligt. Und das, obwohl der unionsgeführten Mehrheit der Länderkammer das neue Gesetz nicht weit genug geht. "Der Bundesrat bedauert, dass es nicht gelungen ist, die gesetzliche Pflegeversicherung auf eine dauerhaft gesicherte Finanzierungsbasis zu stellen", heißt es in dem Entschließungsantrag.

Durch die Pflegereform erhalten die 2,2 Millionen Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen bessere Leistungen. Die Kernfrage lautet: Wie lange lassen die sich finanzieren?

Beim Start 1995 betrug der Beitrag zur Pflegeversicherung 1,0 Prozent, 1996 erhöhte er sich auf 1,7 Prozent. Durch die Erhöhung um 0,25 Prozentpunkte auf jetzt 1,95 Prozent vom Bruttolohn für Versicherte mit Kindern (Kinderlose 2,2 Prozent) – kombiniert mit der Absenkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung um 0,3 Prozent – sollen der gesetzlichen Pflegeversicherung 2,5 Milliarden Euro an Mehreinnahmen zufließen. So soll bis 2015 Ruhe an der "Pflegefront" herrschen.

Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt lobt die Reform als "gut gelungen", auch wenn die nachhaltige Finanzierung nicht geschafft worden sei. Die Prognosen zu den massiven Steigerungen des Versicherungsbeitrags nennt die SPD-Politikerin "Panikmache". Er werde bis 2050 nicht höher als 3,4 Prozent sein.

Wer soll das noch glauben? Es sei ein großer Fehler gewesen, die Pflegeversicherung nach dem herkömmlichen Solidarprinzip zu installieren, urteilte Bert Rürup bereits 2002, bevor er Chef der nach ihm benannten Sachverständigenkommission zur Reform der Sozialversicherungen wurde. Man habe, so Rürup damals, ein überkommenes System aufgebaut, das absehbar nicht funktioniere.

Tatsächlich hat die Pflegeversicherung bisher eher selten einen Überschuss erwirtschaftet, etwa 1995 bis 1998. In den Jahren danach bis 2005 aber waren die Ausgaben jeweils höher als die Einnahmen. Erst 2006 ergab sich wieder ein Plus von 450 Millionen Euro. Die Rücklagen des Systems reichen damit "sicher über das ganze Jahr 2008 und möglicherweise darüber hinaus", so das Gesundheitsministerium. Doch als Gründe nennt es nur mehr Einmal-Effekte und Mehreinnahmen im Zuge der Konjunktur. 2007 wies die Versicherung wieder ein Minus von 330 Millionen Euro aus.

Mit der jetzt avisierten Beitragserhöhung werde keines der strukturellen Probleme der Pflegeversicherung gelöst, sagen Experten. Die Große Koalition bietet eine kleine Lösung und entwertet damit selbst die ganze Reform zu guten Teilen. Die demografische Entwicklung lässt sich nämlich nicht einfach aussitzen. Was passiert, wenn die Babyboomer-Generation alt wird?

Im schlimmsten Fall sollen nach einer Studie des Freiburger Universitäts-Forschungszentrums Generationenverträge statt der derzeit 2,2 Millionen im Jahr 2060 etwa sieben Millionen Menschen auf Pflege angewiesen sein. Im besten Fall werden es rund 2,64 Millionen sein. Wahrscheinlich ist eine Verdoppelung auf rund vier Millionen, so der Autor der Studie, Tobias Hackmann. Der Volkswirtschaftler hat auf Grundlage der vom Statistischen Bundesamt prognostizierten Bevölkerungsentwicklung verschiedene Szenarien untersucht.

Die Überalterung unserer Gesellschaft ist eine evidente statistische Größe. Danach wird im Schnitt die Lebenserwartung eines Mannes mit 60 Jahren bis 2050 von derzeit 20,1 auf 25,3 Jahre steigen. Die Lebenserwartung einer Frau von 24,1 auf 29,1 Jahre. Frauen, die dann 60 Jahre alt sind, werden also 89,1 Jahre. Heißt das dann: Je älter, desto kranker, desto teurer?

Es gibt nun verschiedene Rechen-Szenarien, die sich aus den zwei grundsätzlichen Fragen ergeben, wie sich die Pflegedauer entwickelt und mit welchem Alter Menschen pflegebedürftig werden.
Derzeit wird ein über 65-Jähriger im Schnitt knapp vier Jahre lang gepflegt. Sollte sich das durch bessere medizinische Versorgung verlängern, dann würde auch die Zahl der Pflegebedürftigen insgesamt hoch-schnellen. Hackmann verweist auf das Beispiel der Aidskranken, bei denen bessere Medikamente dazu geführt hätten, dass sie länger lebten, damit aber auch länger gepflegt würden.


Auf 100 Erwerbsfähige kommen 95 Rentner

Schwer vorhersagen kann man auch, wie sich die Wahrscheinlichkeit für Menschen entwickelt, neu pflegebedürftig zu werden. Es geht in den Rechenmodellen darum, ob die künftig alten Menschen durch bessere Vorsorge oder medizinische Versorgung erst später als jetzt pflegebedürftig werden.

Ein Faktor X ist ebenso, ob die sich derzeit schon in der ganz jungen Generation ausbreitende Diabetes und Fettleibigkeit sogar einen früheren Pflegebeginn nach sich ziehen.

Klar ist, dass bis 2035 die Zahl der Pflegebedürftigen rapide nach oben jagen wird, weil dann die geburtenstarken Jahrgänge das typische Pflegealter erreichen. Gleichzeitig schrumpft auf Grund der demografischen Zeitenwende die Zahl der Beitragszahler in die gesetzliche Pflegeversicherung.

Statistische Prognosen, die der Politik bekannt sind. Und sie werden noch schlechter: Die Geburtenrate weist einen Durchschnitt von konstant 1,3 Kindern pro Frau auf. Weit entfernt von den 2,1 Kindern, die für den Bestandserhalt unserer Gesellschaft nötig sind. Trotz Zuwanderung werden 2050 in Deutschland nicht mehr 82 Millionen Menschen leben, sondern nur 75 Millionen. Auf 100 Menschen im erwerbsfähigen Alter kommen heute 44 Rentner – 2050 wahrscheinlich 95.

Das macht schon die ganze Tragweite sichtbar. Demnach wächst die Anzahl der Pflegefälle bezogen auf 100 aktive Berufstätige im Alter von 20 bis 64 im Jahr 2005 von nur vier Pflegefällen auf 5,6 bis 5,8 im Jahr 2035. 2050 erreicht die Belastungsquote einen Wert von etwa zwölf. Die Zahl der Pflegefälle bezogen auf die aktive Bevölkerung wird sich verdreifachen.

Das sind die nackten Zahlen der Demografen, über dessen Trend sich kaum streiten lässt. Sie gehen einher mit grundsätzlichen gesellschaftlichen sozio-ökonomischen Veränderungen, die bereits heute schon tiefe Spuren in jeder Familie hinterlassen. Dazu zählt vor allem der wachsende Trend zum Single-Dasein und die berufliche Mobilität, die heute von Arbeitnehmern erwartet wird.

Beides wird zu grundlegenden Veränderungen bei der Versorgung pflegebedürftiger älterer Menschen führen. Immer seltener werden in Zukunft Angehörige zur Verfügung stehen, um pflegebedürftige Eltern zu versorgen.

Im Jahr 2005 wurden noch 980  000 Menschen in den Pflegestufen I bis III allein durch Angehörige - meist durch Ehepartner und Töchter – gepflegt, gänzlich ohne Hilfe eines ambulanten Pflegedienstes. Weitere 470  000 Personen wurden zu Hause durch einen Pflegedienst versorgt, häufig auch mit Hilfe der Familien. In Pflegeheimen waren 677  000 Menschen voll stationär untergebracht.

Das wird sich in Zukunft grundlegend ändern. Wenn also weniger Angehörige für Pflegetätigkeiten da sein werden, prägt das den Pflegemarkt dann entscheidend. Nach Berechnungen wird sich der Anteil der häuslichen Pflege durch Angehörige auf einen Anteil von 23 Prozent (jetzt 48,2 Prozent) halbieren, während der Anteil der Heimpflege von heute 32,8 Prozent auf 48 Prozent ansteigt.

Bis 2020 wird so die Zahl der Pflegebedürftigen im Heim eine Million erreichen und danach ungebrochen und teilweise beschleunigt anwachsen. Die stationäre Pflege wird so zur häufigsten Versorgungsform werden und nahezu die Hälfte aller Pflegefälle umfassen. Das aber heißt für die Finanzierung der Pflegeversicherung nichts anderes: In Zukunft werden fiskalisch preiswerte Leistungen durch teurere ersetzt werden.

Das bedeutet, dass die Ausgaben für professionelle Pflege stärker wachsen werden als die reine Pflegebedürftigkeit. In seiner Studie zur Pflegereform rechnet Volkswirtschaftler Reinhold Schnabel von der Universität Duisburg-Essen mit einem Anstieg von rund drei Prozent pro Jahr. Bis 2020 werde der Markt für professionelle Pflege um 40 Prozent auf 37 Milliarden Euro wachsen, bis 2030 um 75 Prozent auf 47 Milliarden Euro und bis 2050 um 270 Prozent auf dann 72 Milliarden Euro.

Die Steigerungen in der stationären Pflege werden nochmals höher liegen. Bei stärkerer Preissteigerung im Pflegesektor wird der Anstieg dann noch stärker ausfallen. Die gesetzliche Pflegeversicherung kann ihr heutiges Leistungsniveau nur um den Preis erheblich höherer Beitragssätze halten. Je nach Szenario müsste der Beitragssatz auf drei bis 5,5 Prozent klettern. Gleichzeitig erhöhen sich die Beitragssätze der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung.


Beitragssatz klettert bis auf sieben Prozent

Ja, es gibt auch andere Modellrechnungen mit einem noch bedrohlicheren Szenario: In einer Studie vom Freiburger Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen für das Deutsche Institut für Altersvorsorge ist von Beitragssteigerungen auf 2,4 Prozent im Jahr 2020 die Rede. Bis 2035 würde der Beitragssatz auf 3,3 Prozent und 2055 auf bis zu sieben Prozent zu klettern.

Auch wenn die Reform bei der Pflege älterer Menschen dringend nötige Verbesserungen vorsieht wie bei der Sorge für Demenzkranke, ist die Finanzierung der Pflegeversicherung auf Dauer nicht gesichert. So auch der Tenor von FDP, Grünen und Linksfraktion. Die FDP-Gesundheitspolitiker Heinz Lanfermann und Daniel Bahr attackieren die Union, sie sei bei dem neuen Gesetz eingeknickt, habe den Einstieg in eine kapitalgedeckte Finanzierung nicht durchsetzen können.

Da irritiert es, wenn Kanzleramtsminister Thomas de Maizière von der CDU die Pflegereform nur als ersten Schritt propagiert. "Langfristig wird dort ähnlich wie bei der Rente auch eine Mischung von Umlagesystem und Eigenvorsorge erforderlich sein. Das wird eine Entscheidung in der nächsten Legislaturperiode sein." So ist das. Man wartet also die Bundestagswahlen 2009 ab.

Keine Rede mehr von "Panikmache", wie sie uns Ulla Schmidt weismachen will. Sie musste Anfang Juni 185  000 Protest-Unterschriften in Berlin annehmen: Angehörige von Pflegeberufen demonstrierten gegen Stellenabbau, unzumutbare Arbeitsbedingungen und eine sich ständig verschlechternde Patientenversorgung in der Pflege. 50  000 Pflegestellen wurden seit dem Jahr 1995 gestrichen, kritisiert der Deutsche Pflegerat. Der Dachverband von 13 in der Pflege tätigen Organisationen fordert deshalb eine nochmalige Beitragserhöhung.

Die Szenarien mit der schweren Kost vieler Zahlenprognosen lassen nur einen Schluss zu: Wer in Zukunft ausschließlich auf die absehbar schrumpfenden Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung zurückgreifen kann, wird dann schlechter versorgt werden als jene, die sich privat weitere Hilfen leisten können. Da denkt man doch gleich an Norbert Blüms Ausspruch: "Die Rente ist sicher." Vermutlich jetzt seine eigene. Ohne private Altersvorsorge klappt das nicht. Wir müssen uns von unserer Vollkasko-Mentalität verabschieden. Mit schmerzlichen Einschnitten.