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Teil 8 der großen Volksstimme-Serie Die Madonna von Pretzien: Ist sie Editha?

Von Caroline Vongries 17.04.2009, 10:00

Braut, Königin, Geliebte, durch Jahrhunderte verehrt wie eine Heilige. Editha (910-946), Frau von König Otto dem Großen, ist untrennbar mit der Geschichte von Magdeburg und Sachsen-Anhalt verbunden. Die Volksstimme geht in einer großen Serie auf Spurensuche.

Teil 8: Wie ein Ärmel Politik macht.

Obwohl überliefert ist, dass Otto das soziale Engagement seiner Frau Editha grundsätzlich schätzt und fördert, wird es ihm eines Tages zu viel: Der König will Sparkurs fahren und die Ausgaben für soziale Zwecke drücken. Er verlangt von Editha, ihre Zuwendungen für Arme und Bettler auf der Straße zurückzufahren, wenn sie zum Beispiel die Kirche besucht. Das bringt sie in einen Konflikt. Weil sie weiß, dass sie nicht nein sagen kann, wenn jemand in Not ist und sie um Hilfe bittet, lässt sie ihr Portemonnaie zu Hause. Auf dem Weg zur Kirche wird sie wie üblich von allerlei Bettlern angesprochen, die sie mit dem Hinweis, sie habe heute kein Geld dabei, tatsächlich abwimmeln kann – bis auf einen. Der verfolgt sie bis zur Kirchentür, hält sie am Ärmel ihres Gewandes fest und bittet noch einmal um eine milde Gabe. Was soll sie tun? Sie wiederholt noch einmal, dass sie ihm nichts geben kann, weil sie kein Geld bei sich hat. "Dann gib mir doch ein Stück deines Gewandes", bittet der Bettler, "es ist mit Gold durchwirkt und sicher wertvoll." Editha willigt ein. Er soll den Ärmel ihres Gewandes gut festhalten. Als sie sich zum Gehen wendet, reißen die Nähte. Der Bettler behält den gesamten Ärmel des königlichen Gewands in der Hand. Die Königin eilt, ihren Mantel über das zerrissene Kleid werfend, endlich zur Messe.

"Hast du dich an die Abmachung gehalten?"
Zu Hause an der königlichen Mittagstafel im Palast will Otto von seiner Gattin wissen, ob sie sich an die Abmachung gehalten hat. Sie versucht, sich herauszureden. Zu ihrem großen Schrecken will er das Gewand sehen, das sie am Morgen zur Messe getragen hat. Während sie noch überlegt, wie sie aus der heiklen Situation wieder herauskommt, wird es bereits von Bediensteten gebracht. Zu beider Überraschung ist das Kleid völlig intakt, inklusive der Ärmel. Otto kann es noch weniger glauben als Editha selbst. Schließlich zieht er den abgerissenen Ärmel hervor und gesteht, sich selbst als Bettler verkleidet zu haben, um seine Frau zu prüfen. Allerdings hat er dabei selbst eine Lektion erhalten: Er begreift, dass seine Frau im Einklang mit einer höheren Macht als der irdischen handelt. Editha darf von nun an wieder walten, wie sie es für richtig hält und wird von ihrem Mann voll in ihren Aktivitäten für die sozial Schwachen unterstützt. "Editha, die Wohltäterin" ist vielleicht die schönste Legende, die in der Magdeburger Region über die Königin und ihren Gatten erzählt wird. Sie sagt auch einiges über die Rollenverteilung von König und Königin aus. Die soziale Tätigkeit der Königin, das wird deutlich, ist religiös-spirituell verankert. Ganz selbstverständlich und charmant spricht die Legende Edithas Wirken Wunderkräfte zu, erklärt sie zu einer Mittlerin zwischen Gott und Volk.

Zuständig für Barmherzigkeit
Während ihr Gatte das Christentum mit dem Schwert verbreitet, ist sie zuständig für die Barmherzigkeit, lateinisch: "misericordia". Von "selbstloser Güte" spricht die Hrotsvit von Gandersheim. Der Herrschaftsanspruch im Mittelalter wird ohnehin mit einem göttlichen Auftrag begründet. In diesem Sinne bezeichnet der Bayreuther Professor Ludger Körntgen die "starken Frauen der Ottonen", zu denen er Editha rechnet, auch als "Verfassungsschützerinnen". Ihren Einsatz für die Menschen legitimiert zugleich die Regierung und schafft den Bezug zu den Aktivitäten der damaligen spirituellen Zentren, der Klöster und Stifte. Die Unterstützung kirchlicher Einrichtungen ist auch ein Schwerpunkt des gesellschaftlichen Engagements der Königin Editha. Im Mittelalter ist die Kirche die Instanz, die auch Wohlfahrtseinrichtungen – Spitäler, Schulen, Herbergen, Essensküchen und vieles mehr – betreibt. Gleichzeitig sind sie eine machtvolle politische Größe. Jede Schenkung erfordert also Fingerspitzengefühl, ist ein Akt der Wirtschafts- und Sozialpolitik und verändert das innenpolitische Machtgefüge. Davon, dass die Königin sich einschaltet, von ihren Interventionen profitiert, das ist bekannt, vor allem das Magdeburger Mauritiuskloster, dessen Gründung bereits mit auf ihre Initiative zurückgeht. Ausstattung, Schenkungen, Vorschläge fürs Führungspersonal, all das gehört zum Aufgabenspektrum der Königin. Bekannter und besser erforscht als Edithas Tätigkeiten in diesem Bereich sind die Aktivitäten ihrer Schwiegermutter Mathilde und der zweiten Ehefrau Ottos, Adelheid. Vermutlich wurde deren Einsatz für die Kirche nach der Heiligsprechung durch die Institution selbst einfach mehr verbreitet. Sieben beurkundete Interventionen, also Initiativen im sozialen Bereich, werden dennoch Editha zugeschrieben. Insgesamt sind 67 Diplome und Urkunden bezeugt. Das sind – trotz der kürzeren Lebensspanne Edithas – mehr als bei Mathilde (sechs Interventionen bei insgesamt 39 Diplomen). Adelheid hingegen bringt es auf 92 Interventionen bei 289 Diplomen, die Amtshandlungen für ihren minderjährigen Enkel Otto III. nicht mitgerechnet.

Wer interveniert, hat die Verantwortung
Wer interveniert, übernimmt auch ein Stück weit die praktische Verantwortung für die vom König in seinen Urkunden zugeteilten Schenkungen, Rechte oder Projekte. Die Sorge für die "Memoria", die Organisation des Gebets für die königliche Dynastie über den persönlichen Tod hinaus, liegt ohnehin in den Händen der Frauen. Zu Edithas Zeit sind gerade die Frauenklöster und Stifte noch höchst lebendige religiöse und gesellschaftliche Zentren weiblichen Wirkens. Orte der Bildung. Manche Äbtissin ist ein ernst zu nehmender politischer und militärischer Machtfaktor und bietet selbst dem einen oder anderen Bischof Paroli. In den vergangenen Jahren hat man begonnen, die Bedeutung der Frauenklöster im 10. und 11. Jahrhundert wieder neu zu entdecken. Eine veritable Blütezeit ist für diesen Zeitraum festzustellen. Erst später hat man deren Selbständigkeit beschnitten und die Äbtissinnen unter die Vormundschaft ihrer männlichen Kollegen gestellt. Zu Edithas Zeit besteht unter den Frauenklöstern noch ein enges Kommunikationsnetz. Ist Editha darin eingebunden? Hat sie Kontakt mit den gelehrten Frauen ihrer Zeit? Haben sich die bedeutenden Frauen damals getroffen? Wieso nicht? Sollten ausgerechnet die Spezialistinnen für Netzwerke nicht miteinander kommuniziert haben? Beschäftigt sich Editha mit Mystik wie später Mechthild von Magdeburg, Gertrud von Helfta oder weiter westwärts Hildegard von Bingen? Ob Editha nach der Hochzeit noch Kontakt zu ihren Schwestern und ihrer Familie hat, ob es Nachrichten aus und nach England gibt, ist gleichfalls nicht herauszufinden.

Albrecht der Bär ließ die Kirche errichten
Eine Spur der Königin Editha führt heutzutage nach Pretzien. Ausgerechnet in den Ort, heute Stadtteil von Schönebeck, der vor drei Jahren mit der Verbrennung der Tagebücher der Anne Frank bundesweit Negativschlagzeilen machte. Im Mittelalter gehörte Pretzien dem Magdeburger Kloster Unseren Lieben Frauen. Sankt-Thomas-Kirche, März 2009: Die Sonnenstrahlen zaubern Lichtspiele an die fast tausend Jahre alten Wände des romanischen Gotteshauses. 1140 soll Albrecht der Bär das Kirchlein im Auftrag der Prämonstratenser errichtet haben. Das Licht folgt einer ausgeklügelten Regie: Durch Anordnung und Größe der Fenster werden in den sakralen Tagesund Jahreslauf passende Details im Rauminneren beleuchtet. Die Figuren, die hier ein byzantinischer Meister an die Wände gemalt hat, sind um die 800 Jahre alt. Die originalen Farben sind brüchig. Gerade deshalb erzeugen sie eine Atmosphäre der Transparenz. Ein Wunder, dass diese Malerei aus dem frühen 13. Jahrhundert trotz allem so deutlich sichtbar ist. Ein weiteres, dass sie in den 1970er Jahren wieder entdeckt wurde. Unverhofft. Das Gebäude war offiziell dem Verfall bereits preisgegeben und wurde vom Pfarrerehepaar und einigen Wackeren auf eigene Faust gerettet. Das ist bekannt und wurde bereits vielfach berichtet. Rätsel gibt der Restauratorin Anna-Maria Meussling selbst bis heute die Figur der Maria in der Apsis auf. Links über dem Altar schwebt die in Erdfarben gewandete Frauenfi gur. Ihre Hände hält sie empfangend dem Erlöser entgegen. Die Züge sind streng, von einem bewegenden Ernst. Die Frau trägt ein feines Kleid aus edlen Stoffen, gerafft, mit Bändern durchwirkt, mit Edelsteinen besetzt. Höchst irdische Trauben sind ihr als Insignien mitgegeben. Es ist die markante Krone, die Anna-Maria Meussling keine Ruhe lässt: Die Ähnlichkeit mit der Krone von König Otto I. ist für sie frappierend: "Sehen Sie den Doppelbügel und die Arkanthusblätter hier – mir ist eine solch identische Gestaltung bisher nirgendwo begegnet", sagt Meussling, die für ihr Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde. "Edithakrone" nennt sie das Zeichen der Macht. Wie kommt es auf den Kopf der Maria in der Thomaskirche? Trägt die Madonna von Pretzien Züge der Königin Editha? Im Kulturhistorischen Museum Magdeburg will man sich zu solchen Spekulationen nicht äußern. Doch ist sogar geplant, die Verbindung Pretziens nach Magdeburg im Katalog zur neuen Gotikausstellung des Kulturhistorischen Museums zu dokumentieren: Von den Seitenwänden des Altarraums der Pretziener Kirche blicken die klugen und törichten Jungfrauen herab, wie sie, in Stein gehauen, über einem Portal des Magdeburger Doms berühmt geworden sind. Die Restauratorin Anna-Maria Meussling geht allein aufgrund der Qualität der Malerei und der Farben davon aus, dass die Thomaskirche von demselben byzantinischen Meister ausgemalt wurde wie der ottonische Dom kurz vor dem Brand im Jahr 1207. Zusätzlich ins Bild passt, dass die Kirche des heutigen Ortsteils von Schönebeck einem Märtyrer aus England, Edithas Heimat, gewidmet ist: Thomas Becket, Erzbischof von Canterbury, dessen Reliquien sich im Braunschweiger Dom befinden. Im 12. und 13. Jahrhundert ist die Erinnerung an die Königin Editha und den König/Kaiser Otto, ihren Mann, in der Umgebung von Magdeburg noch hellwach. Davon können wir ausgehen. Hat der byzantinische Meister sich bei seiner Malerei von der für das Volk als Heilige geltenden Königin inspirieren lassen? Vielleicht eine abenteuerliche Theorie. Zurzeit jedenfalls nicht beweisbar.

Wenig bekannt vom Pretziener Wandbild
Man weiß überhaupt sehr wenig über Ursprung und Motivation der Pretziener Malereien. Wahr ist: Die Frau an den Wänden der Thomaskirch ein Pretzien sieht aus wie eine Königin. Und doch wirkt sie fragil. Hingegen macht die Frauenfigur in der sechzehneckigen Kapelle im Magdeburger Dom, von der der Volksmund hartnäckig behauptet, es handle sich um Editha, einen kompakten Eindruck. Wie ein Engel sieht auch diese Frau nicht aus. Eher als hätte sie die Macht gekannt und Kinder geboren. Ist es Editha? Die Kirche? Maria? Weltliche oder himmlische Braut? Die Menschen im Mittelalter mussten das nicht trennen. Das Licht in der Sankt-Thomas-Kirche ist inzwischen weitergewandert.