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Essstörungen Sonja Vukovic: "Sucht hat einen Sinn"

Sonja Vukovic litt an Anorexie und Bulimie. In ihrem Buch "Gegessen" erzählt sie von ihrer Suche nach Anerkennung und dem Sinn der Sucht.

29.01.2017, 01:00

Volksstimme: Frau Vukovic, Sie haben etwa 13 Jahre an Essstörungen gelitten. Wie kam es dazu?
Sonja Vukovic: Das ist in der Kürze schwer zu beantworten. Ich ja ein ganzes Buch gebraucht, um zu beschreiben, warum und wie ich krank, aber auch warum und wie ich später wieder gesund wurde. Rückblickend gibt es viele Faktoren, die für meine Erkrankung eine Rolle gespielt haben. Unter anderem , dass es in meiner Familie Suchtprobleme gibt. Mein Vater ist Alkoholiker. Meine Mutter hat lange in einer Co-Abhängigkeit zu meinem Vater gelebt und an Depressionen und Panikattacken gelitten.  Ich wurde ein sehr unsicheres Kind, war übergewichtig und wurde in der Schule gemobbt. Allerdings vor allem wegen meiner Unsicherheit, das spüren Kinder. Dass ich so einsam war, hat dann auch jemand ausgenutzt, außerfamiliärer sexueller Missbrauch gehört auch zu meiner Geschichte.
Das Zusammenspiel mehrerer Faktoren hat sie sozusagen in die Sucht geführt?
Ja. Das ist es auch, was es so schwer macht, präventiv zu wirken, oder Betroffenen zu helfen. Kaum jemand wird süchtig, weil es ein einziges, einschneidendes Erlebnis gab. Da spielen immer mehrere Faktoren zusammen, unter anderem auch genetische Prädisposition, das soziale Umfeld, ob es Vorbelastung in der Familie gibt.
Wie geht es Ihnen heute?
Gut. Ich bin verheiratet, ich habe eine Tochter, einen Job, den ich liebe. Es ist alles wunderbar. Es gibt zwar auch die ganz normalen Probleme, aber das ist es ja eigentlich, was ich mir immer gewünscht habe.
Normale Probleme?
Ja, ich habe immer gesagt, eines Tages will ich ein ganz normaler Mensch sein, der ganz normale Probleme hat, Streit mit dem Chef oder Probleme mit dem DHL-Boten. Aber keine Existenziellen mehr, fragen, ob das Leben überhaupt lohnt und ob es mich in der Form, so wie ich bin geben darf.
Sind Sie denn gesund im Sinne von geheilt?
Das ist beim Thema Sucht immer schwierig zu sagen und ist auch bei jedem verschieden. Nicht alle werden komplett gesund – und müssen es auch nicht. Wichtig ist, dass sie für sich stabil leben, manche Depressive oder Langzeitopiatabhängige etwa leben besser mit Unterstützung bestimmter Medikament. Ohne sie fielen sie in ein Loch. Ich habe ganz viele Jahre Therapie gemacht und mich wahnsinnig viel damit, wie ich mir selbst helfen kann. Heute achte ich immer noch auf mein Aussehen, aber das Gegenteil von essgestört ist ja nicht, dass es einem egal ist.  Ich zähle nicht mehr jede Kalorie, wiege mich nicht mehr zehn Mal am Tag und ich verbiete mir nichts mehr.  Ja, ich denke, ich bin weitgehend geheilt.
Sind Essstörungen ein eher unterschätztes Thema in der Gesellschaft?
Ich glaube, in der breiten Bevölkerung ist das Thema noch nicht angekommen. Da gibt es noch Hemmungen. Bei Depressionen und Burnout ist das anders. Für Depressionen kann man nichts und wer Burnout hat, hat vorher zu viel geleistet. Bei Sucht heißt es, man habe sich nicht unter Kontrolle. Dabei ist Sucht keine Entscheidung, sondern eine Krankheit.
Sie gehen sehr öffentlich mit der Sucht um, schreiben Bücher und halten Vorträge. Interessant fand ich einen Bericht, in dem Sie vom „den Sinn der Sucht" sprechen. Hat Sucht den einen Sinn?
Ja, Sucht hat einen Sinn. In einer Gesellschaft, in der das größte Lob ist, dass keiner meckert, geht man für das Ziel, anerkannt zu sein, besonders weit. Und im Zweifel nimmt man dafür besonders viel ab. Oder man nimmt dafür aufputschende Drogen, um besser zu funktionieren. Sucht ist ein Weg, um Überforderung zu kompensieren, auch schwere Traumata oder andere Probleme. Essen lässt sich leichter kontrollieren, als die Streits der Eltern etwa. Und sich Kalorien zuzuwenden, ist einfacher, als der Erkenntnis, dass Mama und Papa fehlbar sind.
Wie kann da Prävention funktionieren?
Jedenfalls nicht mit dem erhobenen Zeigefinger. Für Prävention muss mehr Geld ausgebeben werden. Eine Million Euro in den letzten Jahren, wie das Bundesgesundheitsministerium ausweist, ist ein Tropfen in der Wüste. Viel zu wenig. Es muss schon da angesetzt werden, wo das Kind nicht schon in den Brunnen gefallen ist.
Nämlich wo?
Vor allem nicht mit Themen wie: „Wie koche ich mir gesundes Essen". Sie muss darauf zielen, junge, starke, selbstbewusste Menschen heranzuziehen.  Das Augenmerk, besonders bei solchen Sendungen wie „Germany’s next Topmodel", ist immer auf das äußere Feedback ausgerichtet: Finden mich andere gut, kann ich die Erwartungen erfüllen? Es geht nie darum: Was will ich eigentlich? Und genau da muss man ansetzen. Man muss junge Menschen dazu erziehen, nicht immer nur auszudrücken, was sie denken, sondern auch, was sie fühlen.
Sie schreiben „die Gesellschaft huldigt den Rausch, aber verachtet Süchtige". Was meinen Sie damit?
Wir feiern große Besäufnisfeste, das Oktoberfest zum Beispiel ist ein kollektiver Rausch. Wir geben Millionen aus für Werbung, die verspricht, Glück könne man kaufen. Der Kaufrausch ist also total gewollt. Und diese Castings im TV – da geht’s doch überall darum, berauscht zu sein von der Idee, etwas Besonderes zu sein. Wenn dann aber jemand diesem Rausch verfällt, sich in der Illusion verliert, dann gucken wir komisch drauf und sagen: Der ist ja ständig besoffen oder ist kaufsüchtig, der hat die Kontrolle über sich verloren. Das finde ich bigott.