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LehrermangelDorgerloh: "Suchen Lehrer über Facebook"

Kultusminister Stephan Dorgerloh (SPD) spricht über Elternreaktionen und Lehrermangel.

Von Hagen Eichler 15.10.2015, 01:01

Herr Minister, die Regierungsfraktionen haben festgelegt, dass die Schulen eine Unterrichtsversorgung von 103 Prozent bekommen sollen, dass also eine dreiprozentige Reserve für kranke Lehrer eingeplant wird. Schaffen Sie das?

Stephan Dorgerloh: Wir haben noch nicht aus allen Schulen die Zahlen. Aber man kann jetzt schon sagen, dass sich die Unterrichtsversorgung über alle Schulformen landesweit bei 101,4 Prozent stabilisiert hat. Unsere Hoffnung, dass die Zahl im Lauf des Schuljahres noch oben geht, hat sich nicht erfüllt. Alle Lehrer, die wir in den letzten Tagen zusätzlich eingestellt haben, ersetzen Abgänge durch Langzeiterkrankungen und Schwangerschaften.

Wenn Sie das Ziel der Koalition verfehlen, müssten Sie sich doch in den Landtag stellen und einräumen, dass Sie sich verkalkuliert haben.

Moment! Die 103 Prozent waren im Frühjahr realistisch. Damals haben wir mit 700 Schülern weniger geplant. Tatsächlich sind aber seit dem Sommer deutlich mehr Kinder gekommen. Aktuell befinden sich rund 3400 Flüchtlingskinder in der Sprachförderung, bis zum Schuljahresende rechnen wir mit 4800. Die Sprachlehrer gewinnen wir nicht im gleichen Tempo, wie Schüler kommen. Das gelingt nur zeitverzögert. Derzeit haben wir etwa 100 Lehrer aus dem normalen Portfolio für Deutsch-Lerngruppen und Lernklassen abgestellt.

Und was tun Sie jetzt?

In den nächsten Wochen werden wir beginnen, 265 Lehrerstellen auszuschreiben.

Damit ziehen Sie aber nur Ausschreibungen aus dem nächsten Jahr vor.

Ob wir jetzt vorziehen oder nicht – wir schreiben aus. Ungewöhnliche Zeiten brauchen auch die Bereitschaft für neue Lösungen. Das zählt. Ab dem 1. Januar kommen noch bis zu 250 Lehrer für die Sprachförderung hinzu. Das sind mehr als 500 Lehrkräfte, die wir in den nächsten Wochen ausschreiben. Ich gehe davon aus, dass wir in Richtung 102 Prozent Versorgung gehen. Hinzu kommt ein weiteres Prozent, weil wir erstmals 2,5 Millionen Euro für flexible und schulkonkrete Vertretungsmittel bereitstellen. Wir brauchen mehr Instrumente als nur Neueinstellungen.

Also alles kein Problem?

Ich will nichts schönreden, aber wir haben wir bei den Zahlen schon die längeren Krankheitsfälle und Elternzeiten herausgerechnet. Man darf die Lage allerdings auch nicht überdramatisieren. Eine Herausforderung sehen wir in Auswertung der Bewerberlage bei Grundschulen in Mansfeld-Südharz und in der Gegend Wittenberg/Jessen. Da haben wir bei der Suche nach Lehrkräften auch schon die sozialen Netzwerke bemüht.

Das Land sucht Lehrer über Facebook?

Ja, zum ersten Mal. In einem Fall sind wir auch auf einen Bürgermeister zugegangen, weil sich selbst nach der dritten Ausschreibung kein Bewerber meldete. Dort waren wir am Ende dann tatsächlich mit neuen Ideen erfolgreich.

Gestehen Sie nicht das Scheitern der Schulbehörden ein, wenn Schulleiter und Bürgermeister die Personalsuche jetzt selbst richten sollen?

Das Gegenteil ist der Fall. Ich finde es sehr gut, wenn die Verwaltung neue und auch auf den ersten Blick ungewöhnliche Wege geht. Wir begnügen uns nicht mehr damit, Stellen allein auf der Homepage des Landesschulamts zu veröffentlichen. Unsere Wege müssen noch vielfältiger werden. Wir prüfen derzeit auch ein Konzept aus Sachsen, wo das Land Stipendien für Lehramtsstudenten vergibt, die danach in ländliche Regionen gehen.

Das prüfen Sie aber schon seit Langem.

Schnellschüsse helfen hier nicht. Wenn so ein Konzept funktionieren soll, muss es gut sein. Das kostet schließlich auch einiges. Wir müssen ja nicht mögliche Fehler anderer wiederholen.

In diesem Schuljahr stellt das Land 600 Lehrer ein. Wie viele verlassen den Schuldienst?

628 sind rausgegangen, 600 stellen wir ein. Zusätzlich haben wir fast 200 Lehrerstellen durch schulorganisatorische Maßnahmen gewonnen – durch die Rückführung von Abordnungen aus anderen Behörden und ein anderes Stundenzuweisungsmodell bei Sekundarschulen. Auch die Schließung von Standorten hat mit dazu beigetragen.

Sie haben also rechnerisch mehr Lehrer. Die Unterrichtsversorgung ist aber wegen der Flüchtlingskinder dennoch gesunken.

Wir könnten natürlich die Flüchtlingskinder herausrechnen. Aber diese Rechnerei fangen wir gar nicht erst an. Diese Kinder sind uns genauso willkommen, auch wenn sie jetzt seit wenigen Wochen in Größenordnungen kommen. Über steigende Schülerzahlen sollten wir uns freuen, auch wenn man dafür die Planungen korrigieren muss.

Viele Eltern hören regelmäßig von ihren Kindern, dass sie mal wieder einen Film gesehen haben, weil eine Lehrerin krank war. Ab wann ist es gerechtfertigt, sich beim Schulleiter zu beschweren?

Solange es Schule gibt, fallen auch einzelne Stunden aus. Das ist nicht schön, das war in der Vergangenheit so, als wir eine Unterrichtsversorgung von 108 Prozent und mehr an den Schulen hatten, und das wird sich auch in Zukunft nie ganz verhindern lassen. Gleichzeitig erleben wir eine große Leistungsbereitschaft der Kollegien und Schulleitungen, den Ausfall zu vermeiden. Es sind übrigens nicht automatisch die älteren Kollegen, die länger krank werden. Viele der erfahrenen Kolleginnen und Kollegen tragen die Last, wenn Jüngere zum Beispiel wegen kranker Kinder ausfallen.

Wie viele im Unterricht gesehene Filme müssen Eltern nicht mehr tolerieren? Zwei pro Woche? Drei?

Auf diese Frage kann es ernsthaft keine Antwort geben. Der Totalausfall liegt zum Glück unter drei Prozent.

Da zählen aber die mit einem Disney-Film gefüllten Stunden nicht mit.

Das ist korrekt. Wir empfehlen Eltern bei größerem Ausfall, das Gespräch mit der Schule zu suchen. Wir haben an den über 900 Schulen im Land immer auch auftretende Probleme zu lösen. Dafür haben wir das Instrument der flexiblen Vertretungsmittel auf 2,5 Millionen Euro aufgestockt. Wir erleben aber auch Eltern, die den Schulleiter anrufen, wenn der Lehrer zwei Tage fehlt.

Jetzt rächt sich, dass das Land über Jahre sehr wenig Referendare und Lehrer eingestellt hat. Die unterrichten jetzt oft in anderen Ländern.

(Lange Pause) Wir werden auf jeden Fall die Ausbildungskapazität erhöhen. Wir wären auch schon in früheren Jahren nicht dagegen gewesen.

Wann haben Sie das erkannt?

Wir haben dazu bereits 2012 extra eine interministerielle Arbeitsgruppe eingesetzt. Dort ist das diskutiert worden.

Wessen Schuld ist es, dass dennoch zu wenig Lehrer eingestellt wurden?

Wir haben seit Jahren erfolgreich für zusätzliche Lehrerstellen gekämpft. Es ist jetzt müßig, über die Schuldfrage zu reden, das ist sicher für Journalisten interessant. Für mich ist das gegessen. Wir haben jetzt eine Situation, wo wir innerhalb von drei bis vier Monaten Tausende zusätzliche Schüler haben. Das müssen wir erfolgreich gestalten. Darin liegt ja auch eine Chance für unser Land.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, um zu reagieren? Wollen Sie die Stundentafel kürzen?

Eine Kürzung der Stundentafel steht nicht zur Debatte. Ich finde es keinen Nachteil, dass wir deutlich mehr Unterricht in Sekundarschulen erteilen können, als die Kultusministerkonferenz es vorgibt. Ich finde gut, dass sich Sachsen-Anhalt das leistet.

Wenn Sie die Stundentafel nicht ändern wollen: Fordern Sie Schulleiter auf, die Klassen zu vergrößern, um Lehrkräfte zu sparen?

Schulleiter können hier selber entscheiden. Aber dass kleine Klassen automatisch die Unterrichtsqualität verbessern, ist ein unausrottbarer Mythos, der von der Wissenschaft nicht gedeckt ist. Kleine Klassen führen nicht automatisch zu besseren Lernergebnissen, eine gute Unterrichtsgestaltung und -führung hat weit größere Wirkungen. Und wenn eine Grundschule 33 Kinder auf drei Klassen aufteilt, hat sie ihr Potenzial für Förderstunden schon komplett verbraucht. Wer Klassen mit 20 bis 25 Schülern bildet, kann freiwerdende Lehrerstunden anders verwenden. Man kann dann dort, wo es sinnvoll ist, die Klasse auch mal teilen, zum Beispiel im Sprachunterricht oder bei der Arbeit im Computerraum.

Wird das Land die Zahl der Lehramtsstudenten erhöhen?

Wir haben derzeit 550 Plätze an der Uni Halle und steigern das zum Oktober 2016 auf 700. Denkbar ist für mich auch ein zweiter Schritt auf 900 bis 1000 Plätze.

Bislang werden im Land Schulen geschlossen. Ändert sich das jetzt bei der hohen Zahl von Flüchtlingskindern?

Für kleine Standorte ist das tatsächlich eine Chance. Agile Bürgermeister, die Flüchtlingsfamilien klug integrieren, die sich um Arbeitsmöglichkeiten kümmern, könnten mit ihrer Gemeinde profitieren. Das setzt aber voraus, dass die neuen Familien bleiben können und hier im guten Miteinander leben wollen.

Am Donnerstag demonstrieren Lehrer und Eltern vor dem Landtag. Hinter ein Transparent mit der Forderung „Kein Unterrichtsausfall“ müssten Sie sich doch eigentlich selbst stellen.

Ja, denn dafür arbeiten wir auch. Die 100 Vertretungslehrer in diesem Schuljahr haben wir ja auch nicht bekommen, weil wir nett sind.

Sie nehmen die Demonstration nicht als gegen Sie gerichtet wahr?

Es gibt jene, die das Problem lösen wollen. Andere wollen es nutzen für die kommende Landtagswahl.

Vor zwei Jahren haben Sie gesagt, im Moment mache Ihnen Politik Spaß. Gilt der Satz noch?

Auf jeden Fall. Es ist schön, zu sehen, wie das Team angesichts der Flüchtlingsaufgabe die Ärmel hochkrempelt. Das ist eine Aufgabe, die alle fordert und auch Aufbruchsstimmung braucht, um die Situation zu meistern.