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Kriminalität Einbruch zur schwersten Stunde

Ein Mann soll in die Häuser seiner Opfer eingebrochen sein, als deren Angehörige bestattet wurden. Nun ist er gefasst.

Von Matthias Fricke 18.10.2015, 01:01

Halberstadt l Es ist der 3. September dieses Jahres zur Mittagszeit, als der 93-jährige Paul G. (Name geändert) in Quedlinburg am Grab seiner Ehefrau steht. Jahrelang hat er sich liebevoll um seine schwer kranke Gattin gekümmert und nun nimmt die gesamte Familie Abschied. Alle sind gekommen, Nachbarn, Kinder, Enkel und Verwandte aus mehreren Bundesländern.

Sein Schwiegersohn Roland Hammer erinnert sich: „Ein Trauergast und Nachbar, der früher die Zeremonie verließ, kam zu uns zurück und sagte, dass bei meinem Schwiegervater eingebrochen wurde.“ Die Nachricht spricht sich nur im engsten Familienkreis herum. Der Witwer darf davon noch nichts erfahren. „Das wäre in diesem Moment definitiv zu viel für ihn“, sagt Hammer. So schleichen sich die Kinder und Enkel nacheinander vom Friedhof zum Haus des Witwers, um die Polizei zu holen und nach der Spurensicherung alles wieder aufzuräumen. Ihnen bietet sich ein Bild der Verwüstung: Die Tür ist brachial aufgebrochen, die Betten durchwühlt, Schränke geleert und alles am Boden verteilt.

In der Zwischenzeit läuft noch immer die Trauerfeier. Erst ganz zum Schluss sucht die Tochter des Witwers nach richtigen Worten: „Es gibt viele Schicksalsschläge im Leben, aber Du weißt, dass wir immer für Dich da sind. Ein ganz böser Mensch hat bei Dir eingebrochen.“ Der 93-Jährige verkraftet die Nachricht in diesem Moment offenbar besser, als zunächst alle glaubten. Doch am nächsten Morgen sieht das anders aus. Der Tod seiner Ehefrau, der Einbruch und das plötzliche Alleinsein im Haus führen zum Zusammenbruch. Paul G. muss ins Krankenhaus.

Schmuck, Uhren und Bargeld in Höhe von rund 2600 Euro erbeutet der Täter, wie sich später herausstellt. Kriminaloberkommissar André Drexler deutet der Quedlinburger Familie bereits zu diesem Zeitpunkt an, dass es eine heiße Spur gibt.

Die Beerdigungs-Masche ist den Ermittlern nämlich schon im August zuerst im Bördekreis aufgefallen. Später stiegen dann auch die Beamten aus dem Polizeirevier Harz ein. Dann häuften sich die Fälle nach dem gleichen Muster. Weil der Täter bevorzugt nach Trauerkarten mit Geldgeschenken sucht, nennen die Ermittler das gesamte Verfahren den „Trauerkarten-Fall“. An zahlreichen Tatorten knackt der Einbrecher sogar noch die Briefkästen auf, um an die Trauerkarten zu gelangen.

Ein später für den Durchbruch entscheidender Hinweis kommt von einem 17-jährigen Berufsschüler aus Genthin im Jerichower Land. Christoph Neubauer beobachtet am 22. August ein Auto mit Wanzleber Kennzeichen vor dem Haus seiner Nachbarn. Er erinnert sich: „Der Wagen stand an einer Stelle, wo sonst nie einer steht. Das war schon höchst verdächtig.“ Im Auto sitzt eine Frau und raucht. Mit seinem Smartphone fotografiert der Jugendliche heimlich den Wagen samt Insassin.

Was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnt: Er fotografiert die Lebensgefährtin des späteren Beschuldigten, die auf ihn bei einem Einbruch wartet, während die Angehörigen bei der Beisetzung sind.

Als Christoph Neubauer am Nachmittag des gleichen Tages die Polizei vor dem Haus sieht, geht er mit dem Foto zu den Beamten. „Das Bild zeigte die Insassin von der Seite. Aber mit dem Kennzeichen konnten wir eine Menge anfangen“, sagt Ermittlungsleiter Andreas Haberlag. Für das umsichtige Handeln will der Präsident der Polizeidirektion Nord Andreas Schomaker in der kommenden Woche den Zeugen auszeichnen.

Ein weiterer Zufall hilft. Die bis dahin unbekannte Frau wird auf dem Magdeburger Ring geblitzt. Sie ist mit eben jenem Auto mit Wanzleber Kennzeichen 23 km/h zu schnell. Neben 70 Euro und einem Punkt in Flensburg kostet es die Frau vor allem die Anonymität. Die Beamten haben nun eine Frontalaufnahme der Frau und können ihren Namen ermitteln.

Die 30-Jährige wohnt mit dem späteren Beschuldigten gemeinsam in einer Wohnung. Ihr Lebensgefährte ist den Beamten bereits einschlägig wegen Eigentumsdelikten bekannt. Die gesammelten Informationen reichen Anfang Oktober der Polizei für einen Durchsuchungsbeschluss. Kriminalrat Haberlag: „Alle beteiligten Polizeireviere und die Staatsanwaltschaft Halberstadt haben an einem Strang gezogen, damit es dazu kommt. Ich bin 35 Jahre lang Polizist, aber solch eine Masche, die Trauer der Menschen reihenweise so auszunutzen, habe ich noch nicht erlebt. Die Opfer befinden sich im tiefsten Schmerz und dann so etwas.“

Am 1. Oktober stürmt ein Spezialeinsatzkommando die Wohnung des Pärchens. Der 31-jährige Mann aus der Einheitsgemeinde Wanzleben-Börde wird festgenommen. Was die Ermittler später in der Wohnung finden, bestätigt die Verdachtsmomente.

Das sichergestellte Diebesgut passt zu zahlreichen Einbrüchen. Die Masse spreche sogar für weit mehr als die bisher 26 angenommenen Taten, so Haberlag. Hauptkommissarin Sibille Gluschke, seine Kollegin vom Polizeirevier Börde, sagt: „Besonders bitter ist, dass viele spätere Opfer alles zu Hause gelassen haben, damit am Friedhof nichts gestohlen wird.“ Nach Einschätzung der Ermittler könnte der Diebeszug bereits im Mai seinen Anfang genommen haben. Die Masche, bei Trauernden während der Beerdigung einzusteigen, begann aber erst im Juni.

Der Täter hätte damit wohl auch nicht aufgehört. Denn in der Wohnung fanden die Kriminalisten eine handschriftliche Liste mit weiteren anstehenden Trauerfeiern. Sorgfältig sind Namen, Datum und Uhrzeit der Trauerfeier sowie das Alter der Verstorbenen notiert. Der Beschuldigte hat sich in den Fällen offensichtlich auf die Jahrgänge 1930 bis 1940 spezialisiert. Als nächstes wäre nach jener Liste Magdeburg an der Reihe gewesen. Außerdem fanden die Beamten auch Belege dafür, dass Goldschmuck bereits eingeschmolzen und zu Geld gemacht wurde.

Seit 2. Oktober sitzt der 31-Jährige in Untersuchungshaft. Acht Fälle, unter denen auch der des Quedlinburgers Paul G. ist, hat er bereits gestanden. Zu den Motiven wollte der Beschuldigte sich nicht äußern. Haberlag: „Jetzt beginnen die Ermittlungen erst richtig.“ Sechs Monate sind Zeit, bis Anklage erhoben werden muss. Seine Lebengefährtin muss mit einem Verfahren wegen Beihilfe zu den Einbrüchen rechnen.