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Zwickmühle Das Mittelalter, unsere Zukunft

Publikum feiert Premiere von „Die kaufen wir uns!“ in der Magdeburger Zwickmühle.

Von Rolf-Dietmar Schmidt 18.10.2015, 23:01

Magdeburg l Die Doppeldeutigkeit des Titels ist programmatisch, reicht von der Schnäppchenjagd für Dinge, die der Mensch nicht braucht, bis hin zum Sturz des Kapitalismus durch Kaufverweigerung. Das Damen-Duo Marion Bach und Heike Ronniger wird dabei, allerdings angesichts der überbordenden weiblichen Dominanz eher verhalten, von Christoph Deckbar musikalisch, einmal sogar als eingeschüchterter Ehemann, unterstützt.

Doch bevor die Protagonistinnen in atemberaubendem Tempo durch die weltgeschichtliche Entwicklung der Menschheit eilen, die ausschließlich durch „Alles meins“, durch Kaufen oder „haben ist besser als brauchen“ bestimmt wird, analysieren sie erst einmal die Ursachen in einer Zeit, als noch allen alles gehörte.

„Meine“ Frau – damit fing das ganze Elend an, sezieren die beiden höchst genüsslich und sehr anschaulich das besitzanzeigende Fürwort, auch Possessivpronomen genannt. Hat man sich erst einmal Eigentum verschafft, dann muss man das auch schützen.

Und damit sind die Künstlerinnen schon in der Gegenwart, wenn sie am Strand des Mittelmeeres höchst medienwirksam im Frontex-Auftrag selektieren, wer es bis zum Strand schaffen darf und wer vorher untergehen kann. Da bleibt einem das Lachen im Halse stecken, was allerdings auch beabsichtigt ist.

Das Programm ist von Anfang an höchst musikalisch angelegt. Oliver Vogt und Christoph Deckbar haben arrangiert, komponiert, Letzterer auch intoniert, was die Klaviatur hergibt. Die beiden Damen, stimmlich durchaus gut aufgestellt, eilen durch alle Stimmlagen und Genres von der Operette bis zum Rap.

So findet auch der „Fundamentalisten-Rap“ seinen Platz im neuen Programm, wird mit jeder Menge körperlichen Einsatzes höchst amüsant und trotzdem mit viel Inhalt zum Nachdenken interpretiert. Die Fundamentalisten, heißt es da, gleich welcher Religion, sorgen dafür, dass das Mittelalter unsere Zukunft wird.

Der Regie von Frank Voigtmann ist es mit viel Geschick gelungen, dass bei der Achterbahnfahrt durch Themen und Zeiten der „rote Faden“ nie verloren geht.

Besonders erfolgreiche Figuren aus anderen Programmen entwickeln die beiden Künstlerinnen konsequent weiter. Dazu gehören die beiden renitenten Rentnerinnen, die bei dem meist schon leicht ergrauten Publikum jedes Mal Begeisterung hervorrufen. Als die beiden mit ihren Rollatoren dank der Mehrheit im Volke nun auch die Demonstrationen, egal wogegen, anführen, laut „wir haben unsern Stock und sind der Graue Block“ rufen und schließlich mit dem Lied „Sag´mir, wo Du stehst?“ die Kanzlerin karikieren, da ist im Publikum kein Halten mehr.

Spielfreude pur vermitteln Marion Bach und Heike Ronniger ebenso als griechische Göttinnen Athene und Demeter, wenn sie in klassischen Hexameterversen, gespickt mit jeder Menge Anspielungen und Anleihen, ihre schauspielerischen Qualitäten unter Beweis stellen.

Es ist eine wahre Freude, dieses Spiel der Worte, Gesten und politisch-satirischen Tiefschläge unter die regierende Gürtellinie zu erleben. Aus dem Olymp lässt sich trefflich mit göttlicher Distanz die Unfähigkeit und Dummheit der gemeinen Menschheit durch den griechischen Wein ziehen.

Ob es um das Wowereit-Mausoleum (Berliner Flughafen), auf dem schon Ikarus landen wollte, Minister Schäuble und das Orakel von Delphi (ein Schiff wird kommen und den Hafen von Piräus kaufen), den Irrgarten des König Minos, aus dem niemand wieder herausfindet (die Europäische Gemeinschaft) oder schlicht das Wort Europa geht – alles hat hier seinen Anfang und sein Ende. Beispiel: Der Wortstamm für Europa ist Erebos, der Gott, der dem Chaos entsprang und als Personifizierung der Finsternis, des Untergangs, gilt. „Siehst du“, rufen da die Göttinnen aus, „wir haben alles selbst gemacht.“

Ach ja, und dann ist da noch die Presse, die sogenannte Vierte Macht, die scheinbar keiner kontrolliert. Stimmt nicht, denn die beiden Kabarettistinnen bohren sehr wohl schmerzhaft in den medialen Wunden, kaufen sich eine Zeitung und schreiben die Rezension gleich selbst.

Das würde der Autor dieser Zeilen bedauern, denn mehr als die Bewunderung für diese tolle Leistung des Damen-Duos und die stürmische Begeisterung des Publikums für dieses Programm könnte da auch nicht drinstehen.