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Flüchtlingskinder Neue Heimat Klassenzimmer

Eine Lehrerin aus Polen bringt Syrern und Albanern Deutsch bei: Sachsen-Anhalts Kultusministerium geht ungewöhnliche Wege.

Von Hagen Eichler 31.10.2015, 01:00

Dessau l Alle Kinder müssen anpacken: Auf einem Stuhl liegt ein Haufen nasser Wäsche und will aufgehängt werden. „Jetzt die braune Hose!“, bittet die Lehrerin Zayed, einen Jungen aus Syrien. Der greift nach dem Kleidungsstück – in Wahrheit das laminierte Bild einer Hose – und klammert es an eine Wäscheleine. Auch Laure, Maha, Griselda und die anderen Kinder finden mit etwas Hilfe eine Jacke, Handschuhe oder Unterhosen. Oleksandr aus der Ukraine, genannt Sascha, zappelt auf seinem Stuhl, bis er endlich an der Reihe ist. Dass die Lehrerin „Jaake“ und „Sooke“ sagt statt Jacke und Socke, macht nichts. Es geht um die erste Verständigung in einem fremden Land – und da kann auch eine Lehrerin helfen, die selbst erst vor einem Jahr eingewandert ist.

Beata Chłopik hat elf Jahre in einem polnischen Gymnasium unterrichtet, kam als alleinerziehende Mutter aber nur mit vielen Nachhilfestunden über die Runden. Um besser zu verdienen, zog sie nach Deutschland – und kommt nun Sachsen-Anhalts Kultusministerium gerade recht. Vorerst bis zum Ende des Schuljahres ist Chłopik an der Dessauer Geschwister-Scholl-Schule eingestellt; die deutschen Qualifikationen kann sie nachholen.

Drei Unterrichtsstunden verbringt die 41-Jährige täglich mit den neun Flüchtlingskindern, zwei weitere Stunden mit einer anderen Gruppe. Sie übt die wichtigsten Verben für den Alltag, bespricht Farben, Zahlen, Körperteile, Lebensmittel. Doch es geht um mehr. Denn sämtliche Kinder wurden aus ihrem alten Leben urplötzlich herausgerissen.

„Das Wichtigste für sie ist, Sicherheit zurückzugewinnen“, sagt Elke Meyer vom Landesschulamt. Sie kennt die Herkunftsorte der Schüler, die jetzt überall in Sachsen-Anhalt vor Schultüren stehen. Kinder aus Aleppo oder Damaskus müssten erfahren, dass sie jetzt in Sicherheit seien, sagt Meyer. „Die Schule ist da wie ein Schürzenzipfel in der weiten Welt.“

Neues Vertrauen brauchen Kinder wie der zehnjährige Zayed und sein jüngerer Bruder Mayad dringend. Beide sind mit den Eltern aus Syrien geflüchtet. Einen Monat war die Familie unterwegs, weiß die Deutschlehrerin vom Vater der Jungen. Bei der Fahrt über das Mittelmeer mussten die Kinder ansehen, wie Menschen über Bord gingen und in der See ertranken. „Auch wenn sie Flugzeuge hören, sind die beiden ängstlich“, sagt Chłopik. Die Erfahrungen aus ihrer bürgerkriegsversehrten Heimat sind mitgereist.

Die Schule lenkt ab. Alle neun Kinder haben sich jetzt vor der Tafel aufgestellt, aus dem CD-Player tönt ein Boogie-Woogie. Die Kinder bewegen nacheinander die Schulter, die Daumen, den Kopf. Einige blicken aus ernsten Augen auf die Lehrerin. Zayed, der größte Junge der Gruppe, lächelt und bewegt beim Refrain bereits die Lippen.

Deutschunterricht wie diesen bieten in Dessau drei der 13 Grundschulen. Landesweit gibt es 280 solcher Sprachgruppen oder Sprachklassen. Dort verbringen die Kinder aber nur einen Teil ihres Schultags, die übrigen Stunden lernen sie in normalen Schulklassen.

„Vor allem die kleinen Kinder sind wie ein Schwamm“, sagt die Sprachlehrerin – in einem halben Jahr, schätzt sie, werden die Neuen dem regulären Unterricht weitgehend folgen.

„Ganz wichtig ist die Stimmung an der Schule, dass alle diese neue Aufgabe auch wollen“, sagt Sachsen-Anhalts Kultusminister Stephan Dorgerloh (SPD), der an diesem Morgen einen Blick in den Dessauer Sprachunterricht wirft. Er kündigt zusätzliches Geld für Schulmaterialien an. „400 000 Euro stehen bereit.“ Zusammen mit der Integrationsbeauftragten will Dorgerloh einen Freiwilligendienst aufbauen. In dem sollen Einwanderer mit Deutschkenntnissen Neuankömmlingen bei Sprachproblemen helfen.

Die Flüchtlinge, mahnt der Minister, seien ein Gewinn für das Land. Auch frühere Einwanderer, Hugenotten, Böhmen, Flamen, hätten die Region bereichert. „Jetzt bekommt eine schrumpfende, überalterte Stadt wie Dessau plötzlich neue Bürger. Das ist doch großartig.“