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Flüchtlinge Immer was los im „Hotel Ibrahim“

Manager Ibrahim Sayed hat der Arabische Frühling aus Ägypten vertrieben. Das Flüchtlingsheim Wolmirstedt leitet er wie ein Hotel.

Von Oliver Schlicht 24.11.2015, 00:01

Wolmirstedt l Ibrahim Sayed tippt lächelnd auf den weißen Zettel mit der Excel-Tabelle, die auf der Wandfliese am Eingang der Gemeinschaftsküche klebt – exakt waagerecht ausgerichtet. „Küche reinigen Erdgeschoss“ ist da zu lesen. Darunter in deutsch und arabisch: Zimmer 5a muss heute „Mülleimer leeren“, „Müll sortieren“ und „Flächen abwischen“. Aber das Wohnheim wird doch täglich von Personal gereinigt? „Wer die Küche benutzt, muss sie auch sauber hinterlassen“, sagt Heimleiter Ibrahim beim Schlendern über die Flure.

Die Tür zum Clubraum steht offen. Drei Afrikaner gucken eine deutsche Seifenoper. Sie drehen sich sofort um, als der Chef den Raum betritt. „Gut!“, sagt Ibrahim. „Das ist gut wegen Deutsch lernen.“ Die drei drehen sich zurück zum Fernseher. Gegenüber an der Wand faltet der Heimleiter eine riesige Tafel auf. „Viermal in der Woche machen wir hier Deutschunterricht.“ Lehrer im Ruhestand aus Wolmirstedt kommen regelmäßig. Der Bibliotheksförderverein „Lesezauber“ hilft mit Büchern.

Nein, das Flüchtlingsheim in Wolmirstedt ist nicht wirklich ein Hotel. Die Erfahrungen der Menschen lassen keinen Platz für Urlaubsgefühle. Und der schmucklose Viergeschosser am Ortsrand wäre auf dem freien Hotelmarkt wohl kaum ausgelastet. Eine normale Flüchtlingsunterkunft ist diese Herberge trotzdem nicht. Gleich im Foyer hängt an einer großen Wandtafel das wöchentliche Animationsprogramm: Laufgruppe, Volleyballtraining, Billard im Sportzimmer, Deutschkurse, Treffen der interreligiösen Back- und Kochgruppe in Barleben, Ausleihplan der zwölf Fahrräder, Ausflugstipps nach Magdeburg, Adressen und Gottesdienste in Moscheen und Kirchen der Umgebung, Bus-Fahrpläne.

Es ist immer was los im Reich von Ibrahim Sayed. „Wir sind hier alle eine Familie“, ist sein Lieblingssatz. Freundlichkeit und Harmonie sind ihm die höchsten Tugenden. Wer dem charmanten Ägypter so zuhört, ist fast geneigt, den nächsten Sommerurlaub in Wolmirstedt zu buchen. Plätze frei wären noch: „Kapazität 144, aktuelle Auslastung 115 Bewohner“.

Die Geschichte des Lebens von Ibrahim Sayed ist beispielhaft dafür, wie Fernweh, Liebe und Flucht in einer immer enger zusammenrückenden Welt die Schicksale von Menschen beeinflussen.

Eigentlich lief im Leben des 35-Jährigen alles nach Plan. Geboren als eines von sieben Kindern in der 500 000-Einwohnerstadt Tanta. Der Vater ist Bauarbeiter. Im Alter von sechs Jahren siedelt die Familie nach Kairo über. Zum Studium geht der junge Ibrahim an die Universität seiner Heimatstadt Tanta zurück. Fach: Betriebswirtschaft. 2001 beendet er sein Studium und wird zum Wehrdienst eingezogen. Dann übernimmt er eine Stelle als Buchhalter in Hurghada am Roten Meer.

Die Stadt mit 160 000 Einwohnern gilt als der führende Badeort Ägyptens. Seit den 1980er Jahren schossen dort die Hotel-Anlagen in die Höhe und befriedigen das Fernweh der Menschen weltweit. Der junge Ibrahim macht dort eine steile Karriere. Er wird Buchhalter der Hotels „The Grand Resort“ und „Siva Grand Beach“ – beides Häuser der „Red Sea Hotel Group“. Bis zu 700 Mitarbeiter betreut er. Viermal zeichnet die Hotelgruppe ihn als „Besten Mitarbeiter“ aus, erzählt er nicht ohne Stolz.

In Hurghada lernt Ibrahim auch seine spätere Frau kennen – eine Deutsche. Sabine kommt aus Frankfurt/Main. Sie arbeitet als Assistentin der Geschäftsführung im gleichen Hotel wie er. Das Paar heiratet 2007, zwei Jahre später kommt Tochter Maja auf die Welt. Befreundet sind beide mit einem Wolmirstedter Paar, die zweimal jährlich Urlaub im „Grand Resort“ machen. Alles gut, alles perfekt, sollte man meinen.

„Wir wollten niemals weg aus Ägypten. Ich liebe mein Heimatland“, sagt Ibrahim. Doch dann brach 2011 der „Arabische Frühling“ aus. Die Bilder vom Terror in Kairo gehen um die Welt. Die Touristen bleiben weg. „Gehälter wurden halbiert, die Hälfte der Angestellten entlassen. Bis heute sind die Hotels nur etwa zu 30 Prozent ausgelastet“, erzählt der Ex-Manager. Das Paar sieht vorerst keine Perspektive mehr in Ägypten.

Dubai? Istanbul? Nein, sie folgen der Empfehlung der Wolmirstedter Freunde – und siedeln 2013 in die Börde über. „Ich habe es vor allem für meine Tochter getan. Hier hat ihr Leben eine Perspektive“, sagt Ibrahim. Und das gilt für die ganze Familie. Sie arbeitet inzwischen beim Landkreis, er wurde erst Sozialarbeiter und dann ab Frühjahr dieses Jahres Heimleiter. Nach einem Jahr Deutschkurs – 17 Teilnehmer, nur drei haben bestanden. Ibrahim war einer davon.

Mit den Heimbewohnern spricht er aber überwiegend Arabisch. „Das Leid, was manche hier durchgemacht haben, geht mir wirklich nah“, erzählt er. Ibrahim hat auf vielen Betten gesessen und zugehört in den vergangenen Monaten.

Da ist der einst wohlhabende Unternehmer aus Syrien, der durch Bomben seine halbe Familie verlor. „Er hatte in Syrien mehrere Häuser und Autos. Jetzt sitzt er hier mit 100 Euro im Monat – den Rest seiner Unterstützung schickt er seiner Familie in die Türkei.“

Und da ist der Militärrichter, der vor dem Assad-Regime geflüchtet ist. „Er war früher ein hochdekorierter General“, weiß Ibrahim. Jetzt ist er ein gebrochener Mann, der an der Essensausgabe in der Schlange wartet.

Aber da ist auch Ramy Hamade, 24 Jahre. Der Syrer stand ein Jahr vor dem Abschluss des Techniker-Studiums an der Universität Damaskus. Dann wurden sein Technikum zerbombt und die Freunde getötet. Seine Eltern konnten nach Brasilien ausreisen, weil seine Schwester dort verheiratet ist. Für ihn gab es kein Visum in Brasilien. Ramy ist zu Fuß in die Türkei geflüchtet und dann weiter über die Balkan-Route.

Der junge Mann spricht sehr gut Englisch. Er will jetzt sein Technik-Studium beenden. „Wo könnte man das besser als in Deutschland?“, fragt er lachend. Und wo könnte man fern der Heimat besser unterkommen, als im Flüchtlingshotel von Ibrahim.