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Kinder-Casting Schräger Sohn gesucht

Die "Addams Family" kommt im Harz als Musical auf die Bühne. Für eine Rolle gab es am Montag ein großes Kindercasting.

Von Elisa Sowieja 27.01.2016, 12:47

Halberstadt l Der Mann am Klavier grinst in die Runde, dann singt er mit Wehmut in der Stimme vor: „Was wär, wenn sie mich nie mehr quält, niemals mehr? Was würd ich machen, wenn sie mich nie mehr sitzen lässt auf dem heißen Herd?“ Mit geschlossenen Augen und ohne besseres Wissen könnte man denken, das hier wird eine Inszenierung der SM-Romanze „Fifty Shades of Grey“. Schaut man aber hin, spricht dagegen schon allein die Tatsache, dass jene Runde, die sich am Klavier versammelt hat, aus Kindern besteht.

Aus neun Jungs, um genau zu sein. Zwischen 10 und 13 Jahre sind sie alt und kommen aus Harz, Börde, Salzlandkreis, Niedersachsen. Ihr Ziel: Sie wollen im Bergtheater Thale zwischen Profis bei der „Addams Family“ mitmischen – als Sohn Pugsley. Das Nordharzer Städtebundtheater hatte in Zeitungen zum großen Kinder-Casting in Halberstadt aufgerufen. Das gab‘s dort zuletzt vor knapp zehn Jahren.

Nun ist Pugsley kein normales Kind. Wie auch? Die ganze Familie ist eine – durchaus liebenswerte – Ansammlung von Exzentrikern mit einer Vorliebe fürs Makabere: Papa stellt gern mit der Modelleisenbahn Zugunglücke nach. Mama liebt Rosen mit abgetrennten Köpfen. Und Pugsleys kleine Schwester geht auf, wenn sie ihr Bruderherz foltert – was der völlig okay findet.

So erklärt sich dann auch, dass die Jungs hier die psychologisch noch unerforschte Folter-Verlustangst besingen – im Musical eine Solonummer. Ganz geheuer scheint ihnen das erstmal nicht. Stirnrunzelnd starren sie auf ihre Textblätter und singen leise im Chor nach. Einmal, nochmal. Als dann jeder einzeln dran ist, klappt‘s schon sicherer.

Vor allem bei Jakob Hummelt. Der unscheinbare Blondschopf trifft nicht nur die Töne; er singt auch so laut, dass man am anderen Ende des Raumes immer noch jede Textzeile versteht. Kein Wunder: Mit seinen 13 Jahren ist der Aschersleber schon ein erfahrener Sänger. Seit sechs Jahren nimmt er Unterricht, Jakob trällert im Kirchenchor und in der Schulband, tritt bei Volksfesten auf. Und vor vier Jahren schaffte er es unter die besten 30 bei Dieter Bohlens „Deutschland sucht den Superstar Kids“.

Mit einer Nummer von Roy Black brachte er damals Mütterherzen zum Schmelzen. „Später will ich aber auf keinen Fall Schlagersänger werden – lieber Frontmann einer Rockband!“, stellt er beim Interview mit der Zeitung sicherheitshalber klar.

Der Folter-Gesang am Klavier ist für die Kinder an diesem Nachmittag schon die zweite Station. Denn das Casting in Halberstadt läuft ab wie bei erwachsenen Profis: Zwei Stunden lang wird gesungen, getanzt und gespielt. Als Erstes hatte jeder ein selbstgewähltes Lied mit Halbplayback gesungen. Besonders beliebt in dieser Runde: Filmtitel.

Jetzt geht‘s ans Vorlesen. Regisseur Klaus Seiffert drückt jedem einen Zettel in die Hand, darauf ein Dialog zwischen Pugsley und seiner Großmutter. Schon wieder so ein schräger Text. Diesmal eine Art Apotheker-Beratungsgespräch, Thema Gifte und Zaubertränke. Ein Auszug: „Was macht das mit mir? – Das macht, dass du nackig durch den Wald rennst!“ Ah, ja.

Flüssig ablesen, das bekommt Jakob locker hin. Nur die Stimme verstellen, so wie es zwei seiner Konkurrenten vormachen, das klappt auf Anhieb noch nicht.

Regisseur Seiffert achtet aber sowieso auf etwas anderes: „In dem Stück spielt schwarzer Humor eine große Rolle. Deshalb ist es wichtig, dass die Kinder verstehen, was sie da sagen und singen“, erklärt er. „Außerdem muss das Kind sehr selbstsicher sein, das hier ist schließlich nicht nur eine Statistenrolle.“

Und ein bisschen tanzen können sollten sie auch. Deshalb geht‘s als Letztes zum Choreografie-Training. Ein energiegeladener Latino mit dem wohlklingenden Namen Mario Mariano wartet schon auf der Kammerbühne, er platziert die Truppe in zwei Reihen. „Jetzt haben wir Spaß!“, kündigt Mariano fröhlich an.

Dann stellt er sich vor die Jungs, und schon geht‘s los: zucken, Hand hoch, Drehung, Salsa-Schritt – puh. Der Spaß ist bisher weder in der ersten, noch in der zweiten Reihe angekommen. Mit roten Köpfen und starren Mienen üben die Jungs ihre ersten Takte immer und immer wieder. Doch dann kommt zum Glück ein einfacher Teil: zappeln, Arme hoch, Arme runter. Übertreiben ausdrücklich erwünscht. So, jetzt grinst auch Jakob.

Nach einer halben Stunde tanzen die Kinder ihre Mini-Choreografie ohne Hilfe vor. Der Profi mustert jeden genau. Worauf er guckt? „Die Schritte sind nicht so wichtig, Pugsley muss im Musical nicht viel tanzen. Ich will nur sehen, dass jemand die Geschichte erzählt und Spaß hat.“

Eine Entscheidung, wer die Rolle bekommt, fällt an diesem Tag nicht. Doch für den Nachhauseweg gibt‘s zumindest schonmal eine gute Nachricht: Das Theater sucht gleich zwei bis drei Pugsleys. „Für ein einziges Kind wären es zu viele Vorstellungen“, erklärt Regisseur Seiffert.

Auf das Alter der Jungschauspieler wird übrigens auch bei den Terminen geachtet: Die ersten Aufführungen liegen in den Sommerferien, und bei den Proben, die im März starten, geht‘s für die Kleinen erst nachmittags los.

Dass unter den neun Bewerbern genügend Kinder mit Potenzial für die Pugsley-Rolle sind, daran zweifelt der Regisseur nicht: „Die Kleinen haben sich genauso gut geschlagen wie sonst die Großen. Teilweise waren sie sogar besser vorbereitet.“

Die Gewinner des Castings werden in den nächsten Tagen angerufen. Bis dahin muss auch Jakob zittern. Auf jeden Fall würde er hervorragend zur Gruftie-Familie Addams passen, findet er. Nicht nur, weil er bei einem Theaterstück schon mal einen Leichenbestatter gespielt hat. Bei ihm zu Hause geht‘s auch ein bisschen schräg zu: „Meine Eltern sammeln Spinnenhäute. Und ich habe genau wie Pugsley eine Schwester, die mich öfter mal ärgert – aber natürlich ohne Folterei!“

Das Musical wird ab dem 11. Juni im Harzer Bergtheater Thale gespielt.