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Analyse Wirtschaft in Lauerstellung

Die Volksstimme nimmt die Entwicklung der Wirtschaft in Sachsen-Anhalt unter die Lupe und zeigt Potenziale auf.

09.02.2016, 23:01

Magdeburg l Wachstum: Sachsen-Anhalt hat nach der Wiedervereinigung eine Aufholjagd vollbracht, inzwischen liegt das Bruttoinlandsprodukt (BIP), also der Wert aller im Jahr produzierten Waren und Dienstleistungen, bei 55 137 Euro pro Erwerbstätigen. Das sind 80 Prozent von dem, was ein Erwerbstätiger im Bundesdurchschnitt erwirtschaftet.

Der Aufholprozess ist seit dem Jahr 2000 allerdings zunehmend ins Stocken geraten. Die Wirtschaft Sachsen-Anhalts ist zwar weiter gewachsen, jedoch nicht so stark wie in den benachbarten Ost- und Westbundesländern. Zwischen 2000 und 2014 ist das BIP des Landes um rund 31 Prozent gestiegen. In Sachsen lag der Zuwachs dagegen bei 44 Prozent. Und der durchschnittliche Zuwachs im Osten betrug 37 Prozent.

Die Ursachen für die schwächere Entwicklung sind vielfältig. Eine besteht im Bevölkerungsrückgang: Je weniger Menschen im Land leben, desto weniger Waren und Dienstleistungen werden konsumiert. Eine weitere Ursache liegt in der Wirtschaftsstruktur: Sachsen-Anhalt hat viele kleine Betriebe, wenig große Firmen. Größere Unternehmen weisen aber in der Regel eine höhere Produktivität auf als kleinere.

Nicht zuletzt spielen äußere Einflussfaktoren eine Rolle: Gerade in den vergangenen Jahren haben die fürs Land wichtige Ernährungsindustrie sowie der Maschinen- und Anlagenbau unter den Russland-Sanktionen gelitten. Die zuletzt gesunkenen Rohstoffpreise haben sich ebenfalls negativ auf das BIP-Wachstum ausgewirkt.

Die Landespolitik hat auf die Wachstumsentwicklung nur bedingt Einfluss. Wachstumsförderlich könnten aber stärkere Bemühungen um Zuwanderer und eine gezieltere Wirtschaftsförderung für hiesige Unternehmen sein.

Exportgeschäfte in andere Länder tragen dazu bei, Wohlstand und Jobs zu sichern und zu mehren. Unternehmen wie Anlagenbauer FAM aus Magdeburg, Pumpenhersteller Oddesse aus Oschersleben oder EMB aus Barleben kämpfen inzwischen weltweit um Aufträge. Wirtschaftsexperten betonen, dass exportorientierte Firmen in der Regel eine höhere Produktivität entwickeln und dadurch schneller wachsen.

Mit der internationalen Ausrichtung ist es in Sachsen-Anhalt jedoch trotz einzelner Positiv-Beispiele nicht weit her. Die Exportquote, also der Anteil der Auslandsumsätze an den Gesamtumsätzen, hat nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums zuletzt bei 27,6 Prozent gelegen. In Ostdeutschland beläuft sich die Quote dagegen auf 34,6 Prozent, der Bundesschnitt liegt bei 46,3 Prozent. Die Politik sollte daher in Zusammenarbeit mit den Wirtschaftskammern die Unternehmen noch stärker dabei unterstützen, ausländische Märkte zu erschließen.

Arbeitsmarkt: Im Oktober 2014 ist die Arbeitslosenquote erstmals seit der Wiedervereinigung einstellig ausgefallen. Eine großartige Entwicklung, lag die Quote doch jahrelang jenseits der 20-Prozent-Marke. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit hat mehrere Gründe: Einerseits ist es der Wirtschaft gelungen, deutlich mehr Jobs zu schaffen. Andererseits haben sich Tausende Menschen eine Stelle in den Nachbarbundesländern gesucht. Und nicht zuletzt geht seit Jahren die Zahl der Erwerbsfähigen im Alter von 15 bis 65 Jahren zurück. Dadurch nimmt die Nachfrage nach Arbeit ab.

Herausforderungen bleiben: Von den rund 126.000 Arbeitslosen sind mehr als 90.000 länger als ein Jahr ohne Job. Viele der Langzeitarbeitslosen haben mit Vermittlungshemmnissen wie geringer Qualifikation oder gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Auch alleinerziehende Frauen haben weiterhin oft schlechte Chancen, weil sie es ohne Hilfe nicht schaffen, Familie und Beruf zu vereinbaren. Und bei sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zeigt sich, dass 44 Prozent der Frauen nur Teilzeit arbeiten. Umfragen zeigen, dass 47 Prozent von ihnen lieber Vollzeit arbeiten würden, aber keine Stelle finden.

Die größte Herausforderung wird im Fachkräftemangel bestehen. Schon jetzt bleiben Stellen in Pflegeberufen und im Handwerk unbesetzt, viele Firmen finden keine Auszubildenden mehr. Die Landesregierung wird daher nicht umhin kommen, Arbeitslose stärker zu fördern und mehr Zuwanderer ins Land zu locken.

Sachsen-Anhalt hinkt bei der Einkommensentwicklung hinterher. Zwischen 2000 und 2014 ist der monatliche Durchschnittslohn zwar von 1784 Euro auf 2235 Euro gestiegen, also um gut 25 Prozent. Gleichzeitig hat sich aber auch das Lohnniveau im gesamten Osten erhöht und betrug zuletzt 2317 Euro. Noch größer ist der Abstand zum bundesweiten Durchschnittslohn von 2960 Euro. In den vergangenen 14 Jahren hat sich das Gefälle weder vergrößert noch verkleinert.

Die Lohnentwicklung dürfte auch ein Grund sein, weshalb nach wie vor viele Sachsen-Anhalter in andere Bundesländer zur Arbeit pendeln, ihre Zahl stieg von 2014 auf 2015 um 3300 auf 141 300. Einen kleinen Schub bei der Lohnentwicklung dürfte die Mindestlohn-Einführung gebracht haben. Für das Jahr 2015 liegt der Bundesagentur für Arbeit allerdings noch keine Statistik vor. Bekannt ist lediglich, dass mehr als 50 000 Arbeitnehmer weiterhin aufstocken müssen, weil ihr Einkommen nicht zum Leben reicht.

Quicklebendig oder mausetot? Die Vitalität der Gründerszene in Sachsen-Anhalt ist ein Streitthema. Anerkannte Studien – etwa der Gründungsmonitor der Förderbank KfW oder der Deutsche Startup Monitor – bescheinigen seit Jahren, dass junge und innovative Unternehmer ihre Ideen lieber in anderen Bundesländern in die Tat umsetzen. Laut KfW-Gründermonitor gründeten zwischen 2012 und 2014 nur knapp ein Prozent der Erwachsenen ein Unternehmen in Sachsen-Anhalt. Das ist der letzte Platz in dem bundesweiten Ranking.

Das Wirtschaftsministerium hält dagegen: Bei Gründungen sei das Land besser als die Statistik. In der laufenden Förderperiode stehen bis 2020 rund 84 Millionen Euro für Gründungsförderung zur Verfügung. Der Wirtschaftsminister hat in den vergangenen Monaten fast wöchentlich neue Förderbescheide an Existenzgründerzentren der Hochschulen ausgereicht. Kluge Köpfe sollen so auf den Pfad des Unternehmertums geführt werden. 282 Gründungen sind aus den Hochschulen heraus in den vergangenen Jahren entstanden. Doch der große Durchbruch eines Start­ups ist ausgeblieben. Der Szene in Sachsen-Anhalt fehlen die Leuchttürme.

Durch die geringe Strahlkraft bei Unternehmensgründungen mangelt es auch an potenten Geldgebern abseits von Investitionsbank und landeseigenen Beteiligungsgesellschaften. Teilweise geben junge Menschen im Dickicht des Förder-Dschungels auf, angehende Gründer klagen über bürokratische Hürden. Ein Gründerklima, in dem Startups mit offenen Armen empfangen werden, ist in den vergangenen Jahren nicht entstanden.

Die Gründerszene in Sachsen-Anhalt wird in den kommenden Jahren ihre eigene Sichtbarkeit verbessern müssen. Ein jährliches Branchentreffen, wie das Investforum, wird nicht ausreichen, um das Land im Ranking der Unternehmensgründungen nach vorne zu bringen.

Forschung: Ein Faktor für die Schwäche bei Unternehmensgründungen ist die geringe Entwicklungstätigkeit der Unternehmen im Land. In unternehmenseigenen Forschungsabteilungen kommt es vor, dass sich Entwickler mit ihrer eigenen Idee selbständig machen. Doch die Dax-Konzerne mit ihren milliardenschweren F&E-Budgets sitzen im Westen, dem kleinteiligen Mittelstand fehlt häufig das Kapital für die teure Forschung. 2013 gaben Unternehmen in Sachsen-Anhalt 228 Millionen Euro für die Entwicklung von neuen Produkten und Techniken aus (2010: 223 Millionen). Damit liegen die Ausgaben der sachsen-anhaltischen Wirtschaft deutlich unter dem Bundesdurchschnitt. Nur Mecklenburg-Vorpommern und das Saarland sind schlechter.

Die Forschungs- und Entwicklungsausgaben der 23 außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Hochschulen im Land betrugen hingegen 552 Millionen Euro (2010: 509 Millionen). Die Stärke bei der öffentlichen Forschung ist eine Chance: Unternehmen können durch Technologietransfer aus Universitäten und Instituten Innovationsimpulse erhalten. Das Land hat in der zurückliegenden Legislaturperiode die richtigen Schlüsse gezogen: Wirtschaft und Wissenschaft müssen enger zusammenarbeiten. Die staatlichen Forschungseinrichtungen sollen dem Mittelstand dabei helfen, innovative Produkte und Ideen auf den Markt zu bringen.

Ansiedlungen: Den Ruf, ein Billiglohnland zu sein, hat Sachsen-Anhalt noch nicht ganz abgelegt. Die Landesregierung hat aber vermehrt darauf geachtet, Unternehmen anzusiedeln, die hochwertige Arbeitsplätze schaffen und die Wertschöpfung erhöhen: Der amerikanische IT-Riese IBM hat in Magdeburg 300 Jobs geschaffen. Telekom-Tochter T-Systems machte Sachsen-Anhalt mit ihrem neuen Rechenzentrum in Biere (Salzlandkreis) als Standort für Cloud-Server attraktiv. Novelis baute in Nachterstedt für rund 200 Millionen Euro das weltgrößte Aluminium-Recycling-Werk. 200 neue Arbeitsplätze sind so entstanden. Mittlerweile arbeiten 1200 Menschen am Standort.

Im Wettbewerb um Ansiedlungen kann Sachsen-Anhalt mit moderaten Lohnkosten, der zentralen Lage in Europa und einer modernen Transport- und Logistik-Infrastruktur punkten. Der Lückenschluss der Autobahn A 14 wird die große Aufgabe für die kommende Landesregierung sein, um die Attraktivität für Investoren weiter zu steigern.

Bei ausländischen Unternehmen ist das Land beliebt: Laut Statistik nahm Sachsen-Anhalt 2014 den Spitzenplatz unter den ostdeutschen Ländern ein. 18 ausländische Firmen siedelten sich an. Deutlich weniger als 2013: Da waren es noch 30 Neuansiedlungen aus dem Ausland. Im Werben um Firmen muss das Land kreativer werden und neue Wege einschlagen. Initiiert vom Wirtschaftsministerium bewarb sich das Land 2015 bei deutschen Mittelständlern als Standort. Statt einer Zusage gab es nur zehn Absagen.

Investitionen: Es ist eine Zahl, die zunächst beeindruckt. Zwischen Januar 2011 und Dezember 2015 haben Unternehmen in Sachsen-Anhalt rund 3,6 Milliarden Euro investiert. Mehr als 10.000 neue Arbeitsplätze sind entstanden, rund 39.500 konnten gesichert werden. Abzulesen sind die Werte an den abgerufenen Mitteln aus der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (GRW). Fakt ist aber auch, dass die Zahl der Unternehmen, die in neue Standorte oder die Erweiterung der Produktion investieren, rückläufig ist.

Die Politik kann dabei nur begrenzt Impulse setzen. Die Bedingungen zur GRW-Förderung sind im vergangenen Jahr gelockert worden. Investitionen werden seitdem auch subventioniert, wenn keine neuen Arbeitsplätze geschaffen werden. Dennoch sind 2015 nur 80 Förderanträge bewilligt worden. Der erhoffte Schub blieb aus. Im letzten Quartal des Jahres trudelten allerdings wieder mehr Förderanträge ein. Vor allem ökonomische Krisen in China oder Russland, der Verfall der Rohstoffpreise und hohe Energiekosten haben dazu geführt, dass das Geld bei Firmen nicht mehr allzu locker sitzt.