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Schallplatten Liebe zum schwarzen Gold

Indie-Plattenläden zelebrieren jedes Jahr im April den Record Store Day. Vinyl-Junkie Stefan Böhme ist dabei.

15.04.2016, 23:00

Lostau l Die schwarze Scheibe dreht sich auf einem gläsernen Plattenteller. Wenn Stefan Böhme Schallplatten hört, dann mit Stil. „Das ist ein Transrotor-Plattenspieler. Den musste ich mir einfach mal leisten“, sagt der 53-Jährige.

Stefan Böhme ist Plattensammler – und ein cooler Typ. Dreitagebart, Leder-Outfit, schwarzumrandete Brille. Das weißblonde Haar fällt ihm in die Stirn. Er kniet vor einer flachen Kommode in seinem Musikzimmer. Beinahe zärtlich streicht er mit der Hand über den glänzenden Design-Plattenspieler.

An den Wänden gegenüber thronen zwei mannshohe Holzregale – zum Bersten gefüllt mit Schallplatten. „Etwa 2000 Scheiben sind das. Die Regale sind Sonderanfertigungen, auf die Größe der Plattencover abgestimmt“, erklärt er.

Die jüngste Sonderanfertigung wurde Böhme beinahe zum Verhängnis, als er versuchte, das schwere Regal allein aufzustellen. „Ist mir plötzlich umgekippt …“, erinnert sich der 53-Jährige und deutet auf ein blau schimmerndes Veilchen unter dem rechten Auge. Der Unfall, Böhmes bislang einzige schmerzhafte Begegnung mit dem Medium Platte. Das Plattenhören indes beschert dem Sammler durchweg positive Gefühle.

„Platten machen Freude, weil sie im Gegensatz zur CD einfach Charakter haben. Sie haben einen ehrlichen, warmen Klang“, sagt Stefan Böhme. In seinem Plattenzimmer, unter dem Dach des Zweifamilienhauses in Lostau, verbringt der Verwaltungsmitarbeiter seine Feierabende. Er steckt sich eine Pfeife an, sucht den passenden Sound aus und legt sich auf das schwarze Ledersofa. „Im Moment höre ich am liebsten Jazz und Elektronisches. Das kann sich aber auch wieder ändern“, sagt der Plattensammler.

Angefangen hat seine Passion für „Vinyl“ – wie Plattenliebhaber die Tonträger aus Polivinylchlorid (PVC) nennen – im Alter von zwölf. In einem Katalog stolpert er über eine Abbildung des zweiten Albums der Rockband Puhdys. Die Musik der Gruppe kennt er kaum, doch irgendwie fühlt er: Dieses Ding mit der bunten Hülle möchte ich haben. Die Eltern bestellen Stefan die Scheibe. Für ihn der Startschuss für die bis heute andauernde Leidenschaft für Schallplatten, für sein „schwarzes Gold“.

Mit gezieltem Griff langt Böhme in eines der Regale und zieht das Puhdys-Album heraus. „Ich weiß genau, wo jede Platte steht“, verkündet er lächelnd. Auch jene, die seine Sturm-und-Drang-Zeit begleiten. „Ich habe viel Glam-Rock gehört. Außerdem Karussell, Yes und Genesis – natürlich mit Peter Gabriel“, erinnert sich der 53-Jährige.

Wie bekam man eigentlich in der DDR die Platten englischer Rockbands wie Genesis? „Na ja, das war nicht immer so leicht“, erinnert sich Stefan Böhme. Als er volljährig wird, fährt er einmal im Jahr mit einem Freund nach Ungarn. Zurück kommen die Vinyl-Fanatiker mit zwei Koffern, randvoll bepackt mit Platten. „Damit haben wir zu Hause kräftig getauscht“, entsinnt sich Böhme.

Nach der Wende hält ein neues Medium Einzug: die CD. Der Vorteil der Compact Discs: sie sind klein, sollen eine höhere Tonqualität als die Platte erreichen. Tatsächlich klingen viele CDs in den Anfangszeiten des Mediums metallisch, schlecht produziert. Seelenlos, würden Vinylverfechter behaupten. Doch der Siegeszug der CD in den Neunzigern ist nicht mehr aufzuhalten.

Auch Stefan Böhme lässt sich mit dem CD-Hype anstecken und sattelt um. „Bei mir ist die Vinyl-Sammlung in den Keller gewandert. Ein Glück, dass ich die Platten damals nicht verkauft habe“, sagt er heute erleichtert. Nur wenige Jahre später entflammt Böhmes Liebe zum Vinyl aufs Neue. Jetzt verfrachtet er die Audio-CDs nach und nach in den Keller. Heute sagt er: „Platten sind mehr als Tonträger, sie transportieren Stimmungen, bringen Erinnerungen an besondere Momente zurück.“

Infografik: Das Revival der Schallplatte | Statista
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Seit einigen Jahren denken immer mehr Menschen wie Stefan Böhme. In Zeiten von Digitalisierung und rückläufiger Tonträgerverkäufe erlebt die Platte als einziges physisches Medium eine Renaissance. 2015 etwa wurden 2,1 Millionen Vinyl-Alben in Deutschland gekauft, so viele wie seit 1992 nicht mehr. Die Verkaufszahlen steigen weiter, auch weil es immer mehr Kaufanreize durch Sondereditionen oder Neuauflagen gibt.

Zuletzt vermeldete der Bundesverband der Musikindustrie für den Retro-Tonträger einen Absatzrekord mit 677 000 verkauften Exemplaren im ersten Quartal 2016. Das gute alte Vinyl ist definitiv zurück – und es klingt heute auf Plattenspielern à la Transrotor umso besser, meint Böhme. „Platten bringen Erinnerungen an besondere Momente zurück.“

Dann legt er ein Album von einer seiner Lieblingsbands – „The Fall“ – auf. Aus den High-End-Lautsprechern erklingt schräger Indie-Punk. Alternativ, abseitig. Das ist genau nach Stefan Böhmes Geschmack. In großen Elektronikmärkten wird ein solcher Geschmack nicht bedient, obwohl inzwischen auch Media-Markt und Co. vermehrt Platten in ihre Sortimente aufnehmen. Der Kenner Böhme stöbert lieber auf Sammlerbörsen oder im Netz. „Am Internet führt natürlich kein Weg mehr vorbei“, sagt Stefan Böhme.

Bei Musik-Empfehlungen setzt der Lostauer allerdings nicht auf Algorithmen, sondern auf Menschen aus Fleisch und Blut. Ein besonderes Exemplar hört auf den Namen „Franz“ und ist Chef des Plattenladens „Hot Rats Records“ in Magdeburg. Bei Roland, genannt „Franz“ Jeske, fahndet Stefan Böhme nach den neuesten Alben, Singles und EPs (Minialben). Oder er entdeckt Neuauflagen seiner Allzeit-Lieblinge wie Joy Division oder Sisters of Mercy.

Am wichtigsten aber ist: „Der Plattenladen von Franz ist sozialer Treff und ein Forum für alle Musikliebhaber. Vinyl verbindet einfach“, sagt Stefan Böhme. Nicht zu vergessen: „Der Laden ist ein Ort, an dem die ganze Zeit gute Musik läuft“, so Böhme.

Jeden Sonnabend verbringt er einige Stunden in dem kleinen Laden in Magdeburg. Zum Aktionstag wird er sich Stil-Berater Franz mit anderen Plattenfreunden teilen müssen. Zum jährlich stattfindenden Record Store Day gibt es begehrte Neuerscheinungen, viele Klassiker werden in neuen Editionen wiederveröffentlicht.

Bei „Hot Rats“ dürfte es betriebsam zugehen. Stefan Böhme freut sich auf eine Sonderedition der englischen Elektro-Pioniere von The Orb. Wenn sich später in Franz‘ kleinem Plattenladen noch immer die Vinylfetischisten auf engem Raum tummeln, wird es sich Stefan Böhme längst wieder auf seiner Ledercouch gemütlich gemacht haben.

Im Mundwinkel klemmt die Pfeife, auf dem Plattenteller dreht sich das neue The-Orb-Album. Viel braucht Stefan Böhme nicht, um glücklich zu sein. Nur ein paar schwarze Scheiben und einen Transrotor-Plattenspieler aus Glas.