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Inga-Suche 1850 Spuren führen ins Nichts

Ein Jahr nach dem Verschwinden von Inga ist die Polizei insgesamt 1850 Spuren nachgegangen. Nicht eine brachte sie bisher weiter.

26.04.2016, 23:01

Stendal l Nur eine schmale Asphaltstraße führt von der Bundesstraße 188 durch den dichten Kiefernwald etwa drei Kilometer weit zum Diakoniewerk Wilhelmshof. Am Fahrbahnrand flattern vereinzelt noch ein paar Reste von Absperrbändern der Polizei. Es ist das Einzige, was noch an die größte Fahndung nach einem Kind in der jüngsten Kriminalgeschichte in Sachsen-Anhalt erinnert.

„Inzwischen ist bei uns wieder Ruhe eingekehrt. Wir haben deshalb in der Leitungsebene auch beschlossen, generell den Medien keine Auskünfte mehr zu geben“, sagt der Leiter des Diakoniewerkes Wilhelmshof, Joachim Arnold. Man wolle nicht nochmal alles aufwühlen. Viele Menschen habe das alles traumatisiert. „Gerade der Suchthilfebereich wurde unter Generalverdacht gestellt“, sagt er der Volksstimme im Sommer. Es habe aber auch dafür Verständnis gegeben. Man bete täglich für Inga.

Noch heute steht eine Inga-Kerze im Andachtsraum, die regelmäßig angezündet wird. Ein Gebet auf der Internetseite des Diakoniewerkes erinnert weiter an das rätselhafte Verschwinden: „Wir bitten für die Arbeit der Polizei, dass Du (also Gott) ihnen Kräfte und Durchhaltevermögen schenkst, und auch, dass ihre Arbeit dazu führt, dass der Verbleib von Inga aufgeklärt wird.“

Der Wunsch bleibt auch ein Jahr später unerfüllt. Ganz Deutschland suchte fieberhaft nach dem blonden fünfjährigen Mädchen mit den blauen Augen und der auffälligen Zahnlücke aus Schönebeck. Sie verschwand spurlos am Abend des 2. Mai, einem Sonnabend, bei einem privaten Grillfest von drei Familien auf dem Gelände des Diakoniewerkes Wilhelmshof. 85 Suchtkranke und geistig-behinderte Menschen werden dort von 30 Mitarbeitern betreut. Es ist eine offene Einrichtung, die für jeden zugänglich ist.

Auch an jenem Sonnabend ist das so. Es sind auch viele Besucher auf dem Gelände und im Gästehaus übernachtet eine größere Gruppe des Blauen Kreuzes aus Brandenburg. Ingas Eltern und die vier Kinder aus Schönebeck sind zu Besuch in Wilhelmshof bei einer kleinen privaten Feier. Sie sind untergebracht bei Bekannten im Mitarbeiterwohnheim. Auch eine weitere Familie ist dabei.

Inga spielt mit ihren drei Geschwistern und den anderen Kindern der Familien an einem Grillplatz am Waldrand. Sie sammeln eifrig Holz, wollen ein Lagerfeuer vorbereiten. Die Erwachsenen bereiten derweil das Abendbrot vor.

Es ist gegen 19.30 Uhr, als auffällt, dass Inga verschwunden ist. Die Eltern und Freunde suchen sofort nach dem Mädchen. Doch in den nächsten beklemmenden 20 Minuten der fieberhaften Suche wird ein ungutes Gefühl zur Gewissheit. Inga ist wie vom Erdboden verschluckt. Die Eltern alarmieren umgehend die Polizei. Kurze Zeit später beginnt eine großangelegte Suche mit etwa 1000 Einsatzkräften, darunter von der Freiwilligen Feuerwehr, dem Technischen Hilfswerk und dem Roten Kreuz. In den folgenden Tagen werden 4700 Hektar durchkämmt. Das entspricht der Fläche von rund 5000 Fußballfeldern. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass Inga einfach nur weggelaufen ist und einen Unfall hatte, schwindet mit jedem weiteren Tag.

Ein Verbrechen wird deshalb immer wahrscheinlicher. Mehrere hundert Personen werden befragt, nicht nur im Umfeld der Diakonie. Die Ermittlungsgruppe „Wald“ hat in Spitzenzeiten bis zu 40 Mitglieder.

Inzwischen sind es nur noch sieben. „Wir werden diese aber bei neuen Hinweisen oder Spuren jederzeit wieder aufstocken“, sagt Mike von Hoff, Sprecher der Polizeidirektion Nord nach einem Jahr intensiver Ermittlungen.

1850 Personen-Spuren geht die Ermittlungsgruppe „Wald“ insgesamt nach. Fast alle sind abgearbeitet, so von Hoff.

Der ehemalige Chef-Ermittler Holger Herrmann arbeitet jetzt in der Fachhochschule der Polizei in Aschersleben. Seine Aufgaben übernahm nun Kriminaloberrat Frank Seitenglanz. Er tritt ein Erbe an, das sich im Ermittlungsstand nicht von dem im Mai 2015 unterscheidet. Dennoch sind sich die Polizisten sicher, dass „alles unternommen wurde, was rechtlich machbar ist.“ So rüsten zum Beispiel einige Tage nach dem Verschwinden die Ermittler die eingesetzten speziellen Such-Hunde mit GPS-Empfängern aus, um ein Bewegungsprofil von Inga zu erstellen. Doch die Hunde laufen nur auf das Innere des Geländes oder folgen mutmaßlichen Fährten, die im Nichts enden. So verläuft sich eine Spur in Tschechien, ohne dass sich dort auch nur ein Anhaltspunkt ergibt.

Jedem Hinweis, sei er auch noch so abstrus – vom Esoteriker bis zum Traumdeuter – gehen die Ermittler nach. Die Beamten werten außerdem nicht nur im Umkreis von Wilhelmshof und Uchtspringe Überwachungsvideos von Raststätten, Tankstellen, Nahverkehrsgesellschaften und Blitzern aus. Die mehrere Tera­byte große Datenflut stammt aus mehreren Bundesländern. Auch vor Ort drehen die Beamten jeden Stein um und suchen in Zimmern sowie anderen Räumlichkeiten nach Spuren. Auch jedes Fahrzeug wird von der Spurensicherung unter die Lupe genommen. Es gibt auch Gespräche mit dem Personal der in der Nähe befindlichen psychiatrischen Klinik Uchtspringe, an der auch der Maßregelvollzug angeschlossen ist. Die Beamten sehen sich die Vorgeschichte einiger Patienten an und beziehen auch Kriminalfälle früherer Jahre in die Überlegungen ein. Fall-Analytiker beraten die Polizisten, doch auch das bleibt ohne gewünschten Erfolg.

Frank Küssner, ebenfalls Sprecher der Polizeidirektion Nord und gelernter Kriminalist: „Das ist ja an diesem Fall das Ungewöhnliche, dass es so gar keine Spur oder Ansatz gibt.“

Als Ende Oktober der 32-jährige Silvio S. die Mordfälle von Elias (6 Jahre) in Potsdam und Mohamed (4 Jahre) in Berlin gesteht, horchen die Ermittler in Stendal auf und nehmen Kontakt mit den Ermittlern in Brandenburg auf. Doch bisher deutet nichts auf einen Zusammenhang mit dem Verschwinden von Inga. „Die Ermittlungsgruppe steht aber auch hier noch in Kontakt mit den Brandenburgern, weil dort noch eine Menge Spuren auszuwerten sind“, so Mike von Hoff.

Welche Qualen die Familie während der gesamten Zeit durchmacht, kann man nur erahnen. Bisher gab es nur eine öffentliche Äußerung durch den Vater, der Stadtrat in Schönebeck ist. Der Linken-Politiker bedankt sich für die Anteilnahme und die moralische Unterstützung. Die Polizei hält auch weiter permanent Kontakt mit der Familie. Mike von Hoff: „Sie wollen nicht in die Öffentlichkeit.“ Dies sei aus Sicht der Ermittler auch wenig zielführend.

Entscheidend bleibe die laufende Fahndung. „Noch immer könnte jeder Tipp der Durchbruch sein“, sagt der Beamte. Und fügt hinzu: „So lange es keine Beweise dafür gibt, dass Inga tot ist, geben wir nicht auf. Auch wenn die Statistik etwas anderes sagt.“

Hinweise erbittet die Polizei Stendal auch weiter unter (0 39 31) 68 52 91.