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Angst-Serie Schlangen: Das kriechende Unbehagen

Die Boa Constrictor schlängelt sich um die Volontärin. Hat sie ihre Angst unter Kontrolle? Ein Experiment mit überraschenden Folgen.

Von Emily Engels 22.05.2016, 03:00

Magdeburg l Sie erdrückt das Opfer mittels ihres muskulösen Körpers. Die Beute wird so stark zwischen ihren Schlingen zusammengepresst, bis es zum Kreislaufkollaps kommt... Die Suche im Internet nach der Boa Constrictor - der Abgottschlange - bestätigt meine Angst. Nach etwa zehn Minuten beschließe ich, meine Online-Recherche lieber nach meinem Termin im Magdeburger Zoo fortzusetzen. Denn weder die Beschreibung des Tieres noch Fotos lassen meine Zuversicht wachsen. Ich habe noch viel mehr Panik als zuvor. Trotzdem steht der Termin schwarz auf weiß in meinem Kalender. Schon bald werde ich einer Abgottschlange begegnen.

Ich habe kaum geschlafen, zum Frühstück keinen Bissen runterbekommen. Jeder Schritt vom Parkplatz in Richtung Zoo-Eingang fühlt sich bleischwer an. Die Sonne scheint, doch an Frühlingsgefühle ist nicht zu denken. Je näher ich dem Eingangstor des Magdeburger Zoos komme, desto stärker klopft mein Herz.

Eigentlich bin ich ein sehr tierlieber Mensch. Doch sobald Lebewesen eine gewisse Körperform haben, stößt meine Tierliebe an ihre Grenzen. Regenwürmer, Aale, Schlangen - alles, was keine Beine hat, löst bei mir Angst und Ekel aus. Schlangen treiben dieses Gefühl auf die Spitze. Die schlängelnden Bewegungen, die Unberechenbarkeit, die starren Augen, die gespaltene Zunge und das Zischen - schon beim Schreiben bekomme ich eine Gänsehaut.

Mit meiner Angst bin ich nicht allein. Etwa ein Drittel aller Menschen in Mitteleuropa geben an, Angst vor Schlangen zu haben. Eine neue Studie mit Kleinkindern von Vanessa LoBue von der Rutgers University in New Jersey besagt, dass wir die Angst vor Schlangen im frühen Kindesalter erlernen. Von Geburt an vorhanden ist die Angst, die oft als Urangst bezeichnet wird, jedoch nicht - so die Studie. Eine umstrittene Theorie, denn viele Angstforscher, wie Borwin Bandelow von der Universität in Göttingen, sagen wiederum, dass die Ophidiophobie (Schlangenangst) angeboren ist und jeder Mensch Angst vor den Reptilien hat. Über eines sind die Forscher sich einig: Es handelt sich dabei um einen sinnvollen Prozess im Körper. Denn die Angst kann lebensrettend sein und bereitet uns auf die Flucht vor den nicht selten giftigen Tieren vor.

Meine größte Angst liegt auf einem hohen Ast im Terrarium. Man erkennt nur ihren kleinen Kopf und die dünne Schwanzspitze. Der Rest des Körpers ist im Geäst versteckt. „Ach, die ist ja ganz klein“, denke ich erleichtert. „Wie groß ist die Boa denn?“, frage ich Konstantin Ruske, den Kurator des Magdeburger Zoos und versuche, dabei so cool wie möglich zu klingen. Die Antwort des Fachmanns lässt mich schaudern: „2,30 Meter lang und etwa 20 Kilogramm schwer.“

Ruske steigt in das Terrarium. Es dauert eine Weile, bis er die Schlange von ihrem Ast gewickelt hat. Der braun-schwarze Körper sieht fleischig und schwer aus. Seine dickste Stelle ist etwa so groß wie mein Oberarm.

Auch in der Mythologie steht die Schlange für Unheil und Hinterhältigkeit. Schon in der Bibel wird sie Eva zum Verhängnis. Diese wird von der Schlange dazu verführt, von den Früchten des verbotenen Baumes zu essen. Die Schlange wird hier als teuflisches Wesen gedeutet. Die Azteken in Mexiko sahen das Ganze differenzierter. Sie verehrten die Abgottschlangen als Boten der Götter. Das Zischen des Reptils soll ein bevorstehendes Unglück angekündigt haben. Das rautenförmige Fleckenmuster wurde von den Mexikanern zugleich für seine Schönheit verehrt. Für mich hat es nichts Schönes an sich. Das Muster bedeutet für mich Gefahr und Bedrohung.

Am Schwierigsten ist die erste Berührung. Regina Jembere, die Pressesprecherin des Zoos, und Konstantin Ruske machen es mir vor. Bei ihnen sieht es ganz einfach aus. Doch bei jedem Annäherungsversuch meinerseits siegt die Angst über den immer kleiner werdenden Mut. „Sie fühlt sich ganz anders an, als viele Menschen glauben“, meint Ruske und beschreibt: „Ganz trocken und überhaupt nicht schleimig.“ Schließlich schaffe ich es. Erst zögerlich, mit meinem Zeigefinger, dann mit der ganzen Hand. Sie ist überraschend warm. Ihre schuppige Haut fühlt sich so an wie die Oberfläche der Mehrweg-Taschen aus dem Supermarkt - trocken und leicht geriffelt.

Obwohl mein Kopf mir sagt, dass alles gut ist, spricht mein Körper noch immer die Sprache der Angst. Meine Beine fühlen sich an wie Gummi, mein Atem ist schnell und meine Hände zittern, während ich mit schnellen Bewegungen den Körper der Schlange ertaste. Mir ist es wichtig, jeden Teil von ihr zu berühren, bevor ich das Tier an meinen Hals lasse.

Langsam gewöhne ich mich an die Haut des Reptils. Es bewegt sich kaum, macht einen ruhigen Eindruck. Plötzlich fühle ich mich bereit, das Experiment durchzuziehen. Mehr aus Ehrgeiz, als aus wirklichem Mut. Konstantin Ruske stellt sich mit ausgebreiteten Armen hinter mich, die Schlange hält er in ihrer vollen Länge in den Händen. Damit ich mich an das Gefühl gewöhne, legt er zunächst einen kleinen Teil der Schlange auf meiner Schulter ab. Sofort wickelt sie ihren Körper um meine rechte Schulter und schlängelt sich weiter entlang meines Körpers. Als ich plötzlich ihre Schwanzspitze an meiner linken Hüfte spüre, reicht es mir. „Sie will mich erdrücken“, rufe ich.

Regina Jembere sagt dann den für mich entscheidenden Satz: „Nein, die Schlange sucht nur Halt.“ Ich schließe die Augen und beginne, das Gewicht und die ruhigen Bewegungen der Schlange zu tolerieren. Ich versuche, dem langen Reptil mit meinem Körper die nötige Stütze zu geben. Als Ruske mir das Tier komplett umgelegt hat, zucke ich kurz zusammen. 20 Kilogramm geballte Muskelmasse drückt sich in meinen Nacken. Berührt man die Schlange mit den Händen, fühlt sie sich warm an. Jetzt liegt sie mir kalt und schwer im Nacken. Ein Gefühl, welches ich noch den ganzen Rest des Tages nachspüren werde.

Die Konfrontation mit der Angst ist die üblichste Behandlungsmethode von spezifischen Phobien, zu denen die Ophidiophobie gehört. Denn im Zentrum der Therapie steht immer die direkte Begegnung mit dem Tier oder der Situation, vor der man Angst hat. Und das so lange, bis die Panikgefühle im Körper nachlassen. Das mag ungemütlich für den Ophidiophobiker klingen, ist aber eine erfolgreiche Methode. Angstforscher, wie Paul Pauli von der Universität Würzburg, versprechen dafür: „Wenn man seine Angst überwunden hat, fühlt man sich danach meist sehr gut. Es kann vorkommen, dass man danach kurzzeitig extrem glücklich ist.“ Noch kann ich mir das nicht vorstellen.

Die Schlange bewegt sich. Sie streift langsam mit ihrem langen, kräftigen Körper entlang meines Halses. Mit jeder noch so kleinen Bewegung spüre ich die Kraft, die in ihr steckt. Während sie weiterhin damit beschäftigt ist, sich um mich zu wickeln, schaut mich die Schlange plötzlich mit ihren starren schwarzen Augen an. Aus einem winzigen Spalt kommt ihre ebenfalls schwarze, gespaltene Zunge. Die Schlange zischt mich so kräftig an, dass ich ihren Atem spüren kann. „Keine Angst, sie riecht Sie nur“, meint Ruske. Seine Worte beruhigen mich nur minimal und ich finde, dass es für die Schlange und mich an der Zeit ist, uns wieder zu trennen.

Ruske setzt sie zurück in ihr Terrarium. Langsam schlängelt sie sich auf einen hohen Ast. Der Weg erscheint mühsam, denn sie wickelt ihren langen Körper immer wieder um das Holz, während sie nach oben kriecht. Nach einiger Zeit hat ihr Kopf den höchsten Punkt des Astes erreicht, während ihre Schwanzspitze noch am Boden des Terrariums ist. Für die Schlange ist es noch ein langer Prozess, bevor sie sich auf ihrem Ast erholen kann. Für sie war der Vormittag bestimmt mindestens so aufregend und stressig wie für mich.

Ich verlasse den Zoo und kann mein Strahlen nicht unterdrücken. Mein Körper ist voller Adrenalin, es fühlt sich wie Freiheit an. Obwohl mir Schlangen immer noch nicht ganz geheuer sind, hat sich etwas für mich geändert. Ich weiß jetzt, dass es sich manchmal lohnt, kleine Schritte zu wagen, um etwas Großes - in meinem Fall den Kampf gegen die Angst - in Bewegung zu setzen.

Würde ich mir wieder eine Schlange um den Hals legen? Vielleicht. Denn noch etwas hat sich geändert: Die Angst vor dem Tier hat sich mit Gefühlen gegenüber dieser Spezies vermischt, die mir bisher unbekannt waren. Mit einer großen Portion Respekt vor dem Lebewesen und - ich möchte es kaum zugeben - mit einer gewissen Faszination.

Nächste Folge: „Die Enge“ am 28. Mai in der Volksstimme. Anregungen und Fragen unter angst@volksstimme.de