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Konzert Eine kunstvolle Rekordschleusung

Eine 60 Meter lange Stuhlreihe für das Publikum und trotzdem ausverkauft. Das Publikum erlebte Carmina Burana im Schleusenkeller.

Von Oliver Schlicht 24.05.2016, 01:01

Hohenwarthe l Vor den mobilen Toiletten am Eingang zu den Doppelschleusen bilden sich kleine Schlangen. „Auf dem Schiff sind doch aber auch Toi­letten, oder?“, fragt ein Herr vorsichtig das Aufsichtspersonal. „Nein!“, bekommt er zur Antwort. „Und wenn ich mich übergeben muss?“ Antwort: „Dann nutzen sie bitte die Reling. Aber der Seegang wird sich in Grenzen halten.“ Beide lachen. So ganz ernst gemeint war das wohl nicht mit der toilettenfreien Zone an Bord.

Oben am Mittellandkanal halten zwei Busse. Einige der Herrschaften tragen kleine Weingläser. Die Garderobe ist fein bis sommerlich salopp. Knapp zehn Konzertfreunde ohne Karten warten am Einlass. Am Ende wird jeder einzelne Platz auf dem Kreuzfahrtschiff „Excellence Coral“ besetzt sein.

Nein, das ist kein normales Konzert an diesem lauen Sonntagabend. Nicht wegen dem Programm: Carmina Burana, organisiert von Star-Bariton Burkhard von Puttkamer, wird gegeben. Carl Orffs Werk für Chor und Orchester wird in einer Fassung für Solisten, einen großen Konzertchor, zwei Klaviere und fünf Schlagzeuger aufgeführt. Und selbst die Örtlichkeit ist fast schon ein alter Hut. Puttkamer bespielt die Schleuse von Hohenwarthe schon seit zwölf Jahren mit zwei bis drei Konzerten jährlich. So wie er auch Konzerte in Straßenbahnen oder in Bergwerken organisiert. Das ist sein Steckenpferd. Nur heute in Hohenwarthe ist alles etwas größer als sonst.

„500 Stühle haben wir zunächst auf dem Oberdeck des Schiffes aufgestellt. Das gab es noch nie“, erzählt Schleusentechniker Enrico Kunzi. Nach Veranstalterangaben sollten es am Ende 580 Gäste sein. 280 Besucher war bislang das Maximum bei einem Schleusenkonzert, wird von Puttkamer nach dem Konzert erzählen. Mit den jetzt erreichten 580 Besuchern sei die Kapazitätsgrenze erreicht. „Mehr geht nicht", so der Bariton. Techniker Kunzi hat in zwölf Jahren fast alle Konzerte miterlebt. „So viele Menschen dürften normalerweise überhaupt nicht auf ein Schiff dieser Größe. Das geht nur, weil dafür Sondergenehmigungen der Schifffahrtsbehörden erteilt wurden“, erzählt er und blickt auf die „Excellence Coral“ hinab, die langsam nach unten sinkt.

87 Passagiere nimmt das Kreuzfahrtschiff aus der Schweiz normalerweise an Bord. Nun sitzen die Konzertfans dicht gedrängt auf dem etwa 60 Meter langen und acht Meter breiten Oberdeck. „Das Schiff hat ungefähr 28 Tonnen Übergewicht. Deshalb darf es in der Kammer auch nicht mehr mit Motorbetrieb rangieren“, so der Techniker. Streng genehmigungstechnisch ist die „Excellence Coral“ für die Zeit des Konzertes kein Passagierschiff mehr, sondern eine schwimmende Plattform. Für den Notfall liegen oben sauber aufgereiht orangefarbene Schwimmwesten für alle Konzertbesucher bereit. „Angefangen hat alles mit Konzerten nur für die Passagiere auf den Kreuzfahrtschiffen“, erzählt Schleusentechniker Kunzi.

Dann wurden zusätzlich einige Karten an ortsansässige Konzertliebhaber verkauft. Aber dass einmal ein so großes Publikum unten in der Schleusenkammer sitzt, hätte er sich vor ein paar Jahren nicht vorstellen können.

Knapp 15 Minuten dauert die Talfahrt an den dunklen Schleusenwänden hinab. 18 Meter in der Tiefe schwimmt das Schiff schließlich am Boden der Kammer. Mit Seilwinden ziehen mehrere Techniker das insgesamt 82 Meter lange Schiff in die Konzertposition direkt vor dem Schleusentor an der Bugseite. So kann sich der Klang des 60-köpfigen Ölbergchores aus Berlin, der nur wenige Meter vor dem Schleusentor steht, imposant entfalten. Denn 190 Meter lang ist die Kammer. Ein Raumvolumen, dreimal so groß wie die Semperoper, schwärmt Burkhard von Puttkamer am Konzertbeginn vor dem Publikum. Langsam schwebt am Kranhaken hängend noch ein Flügel hinab. Es kann losgehen.

Eigentlich sollte auch ein Tenor in einer Personenkanzel am Kran hängend mit einem Lied auf den Lippen einschweben. Doch er wurde krank. „Und seine Vertretung hat Höhenangst“, verrät Schleusentechniker Enrico Kunzi schmunzelnd. So kommt es, dass der Volksstimme-Reporter kurz vor Carmina Burana in der Kanzel einschweben darf – nicht um zu singen, sondern um zu fotografieren. Für die eine Minute Verzögerung bedankt er sich artig beim Publikum. Der herzliche Applaus der ehrenwerten Damen und Herren begleitet ihn schwebend hinauf in den Abendhimmel.