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Platzangst Wie eine monströse Welle

Die Angst vor engen Räumen schränkte sein Leben ein. Jetzt vebringt er zwei Stunden in einem Fahrstuhl.

Von Massimo Rogacki 29.05.2016, 05:00

Magdeburg l Kein Zurück mehr. Der Fahrstuhlboden gibt beim Einsteigen nach. „Wir sehen uns in zwei Stunden“, ruft Michael mir zu, während die Tür zufährt. Ich sehe noch, wie er sich umdreht und davongeht. Bläuliches Licht, ein dumpfes Brummen. Die Kabine ist einen Meter breit, zwei Meter lang. Erst jetzt wird mir bewusst, worauf ich mich einlasse. Ich presse mich an die kalte Fahrstuhlwand, mir schwirrt der Kopf, der Puls hämmert. Und dann kriecht dieses Gefühl in mir hoch. Schneller, als ich es erwartet hatte, ist sie plötzlich da: die Angst.

Magdeburg, Altstadt, einige Tage vorher: Ich bin mit Diplom-Psychologin Martina Minkner verabredet. Ich bin aufgeregt, weil ich zum ersten Mal mit einer Expertin über meine Ängste spreche. Minkner ist in Magdeburg als Psycho- und Verhaltenstherapeutin tätig. Das Behandlungszimmer ist hell und einladend. Sie lächelt mich an. „Angst ist eigentlich eine natürliche Reaktion. Erst wenn sie unangemessen wird und den Lebensradius einschränkt, sprechen wir von einer Angststörung. Wir gehen davon aus, dass jeder vierte Mensch in seinem Leben zumindest für einige Zeit so etwas erlebt“, erläutert sie.

Platzangst (Agoraphobie) gehört zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Laut Angaben der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) haben rund 1,5 Millionen Menschen in Deutschland Platzangst. Frauen erkranken in etwa doppelt so häufig wie Männer. Mit durchschnittlich 25 Jahren tritt die Angst erstmals auf. Die Symptome: Schwindel, Herzrasen, Druckgefühle in Brust und Kopf. Typisch: Die Angst kommt aus heiterem Himmel.

„Ich möchte mich mit meiner Angst konfrontieren“, sage ich zu der Therapeutin. Ich erzähle von dem beabsichtigten Selbstversuch. Martina Minkner: „Zwei Stunden in einem geschlossenen Fahrstuhl? Auch wenn Sie glauben, die Angst unter Kontrolle zu haben – das ist viel. Ich denke, Sie werden körperlich reagieren.“

Ich erzähle der Psychologin, wo meine Angst begann. Vor etwa fünfzehn Jahren. Ich stieg in ein Flugzeug, Stockholm nach Berlin, Fensterplatz, die Maschine vollbesetzt. Ich hatte die ganze Nacht durchgefeiert, zu viel getrunken, nur zwei Stunden geschlafen. Kurz vor dem Start begann ich zu schwitzen. Der Kopf dröhnte, mein Herz hämmerte in unfassbarem Tempo.

Ich musste raus, doch es ging nicht. „Are you okay?“, fragte mich die neben mir sitzende Frau. „Yes“, log ich. Nichts war gut. Ich hatte die Kontrolle über meinen Körper verloren. Den Flug über zitterte ich, kalter Schweiß stand mir auf der Stirn.

Als die Maschine landete, war ich fix und fertig. Ich schleppte mich nach Hause, legte mich ins Bett und schlief gefühlt zwei Tage durch. „Was Sie beschreiben, ist sehr typisch“, erläutert mir Martina Minkner. „Sie sind körperlich gestresst und vielleicht emotional belastet in das Flugzeug gestiegen. Für mich klingt Ihre Reaktion nach einer Panikattacke.“

Das Erlebnis im Flugzeug überstand ich. Was blieb, war das Gefühl. Aus U-Bahnen in meiner Heimatstadt Berlin stieg ich aus, weil ich keine Luft bekam. In Fahrstühlen begann ich zu schwitzen und zu zittern. Wenn ich es schaffte, die Situationen zu ertragen, fühlte ich mich hinterher wie nach einem kräftezehrenden Marathon. Und noch eine Angst kam hinzu: In der Universität fürchtete ich mich davor, vollbesetzte Seminarräume zu betreten.

„Ebenfalls typisch“, fügt Martina Minkner an. „Die Angst überträgt sich auf ähnliche Orte und Situationen. Es ist dieses Nicht-raus-Können bei Ihnen. In Ihrem Gedächtnis hat sich seit dem Flug eine negative Lernerfahrung festgesetzt.“

Ich musste mir Hilfe holen. Das wurde mir immer mehr klar. Doch ich tat es nicht, weil ich mich schämte. Lieber mied ich die Orte, an denen die Angst auftrat. Ich fuhr nicht mehr mit der U-Bahn, mied Fahrstühle. In der Uni wählte ich wenig beliebte Seminare, bei denen die Reihen häufiger leer blieben und ich nicht das Gefühl hatte, eingepfercht und hilflos zu sein. Doch die Angst engte mich immer mehr ein. Ein verbreitetes Phänomen. Psychologen berichten von Menschen, die das Haus nicht mehr verlassen, weil sie angstbesetzte Orte oder Situationen meiden. Ich ging hinaus, doch der Seminarraum, die U-Bahn oder der Fahrstuhl – all diese Orte blendete ich regelrecht aus.

Ich weiß nicht mehr genau, wann ich begann, mich freizuschwimmen. Nach Monaten mit der Angst als ständigem Begleiter nahm ich es erstmals selbst in die Hand. Ich setzte mich wieder in vollere Seminare, fuhr erst einzelne, dann immer mehr Stationen mit der U-Bahn. Es war nicht leicht, aber ich steigerte mich Stück für Stück. Heute kann ich sagen, dass mich die Platzangst etwa zehn Jahre begleitet hat. Hin und wieder zeigt sie sich noch heute.

Mein Selbstversuch findet an einem Sonntag statt. Ich stehe mit wackligen Knien vor der Fahrstuhltür im Erdgeschoss eines Geschäftsgebäudes. Gräuliche weiße Wände, Linoleumboden, ein karges Treppenhaus. Einen Meter hinter mir steht Michael, ein Freund: „Komm schon. Du packst das“, ruft er. Dabei ballt er die Fäuste und bleckt die Zähne. Wie ein Trainer, der seinem Schützling vor dem Wettkampf Mut zuspricht. Er kann nicht wissen, wie sich meine Angst anfühlt.

Während ich den Knopf des Fahrstuhls drücke, atme ich einmal tief durch. Die Tür geht ruckelnd auf. Ich will das nicht, schießt es mir durch den Kopf. Es ist eng. Der Fahrstuhl ist innen mit Aluminium ausgekleidet. Auf einem Schild steht: 12 Personen, 900 Kilogramm. Nie und nimmer passen hier so viele Menschen hinein. An der Längswand befindet sich ein Spiegel. Ich weiß, das ist ein billiger Trick. Die Kabine soll dadurch größer wirken. Um Menschen wie mir vorzugaukeln, dass der Raum nicht ganz so klein ist, wie er ist.

Die Fahrstuhltür ist zu. Mir wird heiß. Mein Puls wird schneller, ich bekomme keine Luft. Ich weiß, dass die Situation harmlos ist und kann doch nichts dagegen tun. Ich glaube, die Angst ist wieder da. Mir ist schlecht, ich muss den Knopf drücken, um die Tür zu öffnen. Tue es aber nicht. Stattdessen rutsche ich an der Wand runter. Und ertrage es. Es dauert nur Sekunden. Ich sitze auf dem Boden, den Kopf an der metallisch kühlen Wand.

Ich bin wieder Herr meiner Sinne. Ich trinke einen großen Schluck Wasser. Bitte nicht noch einmal. Wie verabredet kommt Michael alle zwanzig Minuten und fragt mich durch die geschlossene Tür, ob alles in Ordnung ist. Ja, sage ich. Die Zeit vergeht nur langsam. Wenn die Angst kommt, dann kommt sie am Schluss meines Versuchs – hatte ich vermutet. Dass sie gleich zu Beginn wie eine monströse Welle über mich rollt, hätte ich nicht gedacht.

Nach einer halben Stunde bin ich ruhiger. Ich atme normal, mein Puls ist ruhiger. Ich habe mich an die Kabine gewöhnt, fühle mich regelrecht aufgeputscht. Ich denke über alles nach. All die Jahre, in denen ich mit diesem belastenden Gefühl gelebt habe ... Ich spüre, dass die Angst noch irgendwo in mir drinsteckt. Ich betrachte mich im Spiegel. Ich schwitze. Mit Angst hat das jetzt aber mal nichts zu tun.

Ein geschlossener Fahrstuhl ist ziemlich stickig und heiß. Mit der Zeit werde ich hibbelig. Ich möchte mich bewegen, doch der Platz fehlt. Ich glaube zu wissen, wie sich ein Gefangener in seiner Zelle fühlt. Ich möchte nun nicht mehr, möchte endlich raus aus diesem Gefängnis.

Bei Michaels nächstem Besuch rufe ich: „Ich will jetzt raus.“ Die Tür geht auf. Nach draußen, auf die Straße. Kühlere Luft schlägt mir entgegen. Endlich wieder atmen. Obwohl ich mich in der Stadt befinde und direkt vor mir Häuser in die Höhe ragen, genieße ich ein Gefühl von Weite. Eine Stunde und 20 Minuten habe ich ausgehalten.

„Und, wie war es?“, fragt Michael. „Nicht so schlimm“, erwidere ich. „Angst gehabt?“, fragt er. „Nein, war nur sehr heiß“, entgegne ich. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ihm nur die halbe Wahrheit sage. Denn Angst war definitiv wieder im Spiel.