1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Flucht in die Phantasie

Leser im Knast Flucht in die Phantasie

Alle Gefängnisse in Sachsen-Anhalt haben eine Gefangenen-Bibliothek. In Burg ist ein dicker juristischer Wälzer sehr begehrt.

Von Massimo Rogacki 05.09.2016, 01:01

Burg l Tom Walldorf* schiebt einen mit Bücherstapeln beladenen Wagen über die Flure der der Justizvollzugsanstalt (JVA) Burg. Er greift sich ein Buch, gleicht es mit den Angaben auf einem Bestellzettel ab. Dann öffnet ein JVA-Mitarbeiter mit einem Schlüsselbund in der Hand die Tür zu einem der Hafträume. Einige Sekunden später kommt Walldorf wieder aus der Zelle. Dann geht es weiter auf seiner Runde.

Tom Walldorf ist Häftling in der JVA Burg. Er sitzt aufgrund eines Gewaltdelikts. Seit sechs Jahren arbeitet er in der Gefangenenbibliothek. Andere Häftlinge haben hier keinen Zutritt, die Titel können über Medienkataloge, die auf den Stationen ausliegen, ausgewählt werden.

Zurück von seiner Runde, blickt der 50-Jährige zufrieden durch die runden Brillengläser. „Das war die Tour für diese Woche “, sagt er. Zwei Stunden ist er auf den Stationen unterwegs gewesen. Einmal in der Woche bringt er Romane, DVDs, Gesellschaftsspiele oder Puzzle direkt in die Hafträume. Drei Buch-Titel oder eine DVD pro Häftling. Leihfrist: ein Monat.

Unterschiede zwischen der Gefängnisbibliothek unter einer konventionellen Bibliothek gibt es auf den ersten Blick nicht. In den Regalen der JVA-Lesetempels stehen Ratgeber zur Rauchentwöhnung, der neue Roman des Thriller-Autors Sebastian Fitzek, Harry-Potter-Bände und natürlich: etliche Ausgaben des Strafvollzugsgesetzes. „Das Gesetz ist der absolute Bestseller bei uns. Gefangene wollen nun mal ihre Rechte kennen“, sagt Walldorf.

Egal welche Art von Medien er bei seinen Touren im Gepäck hat, bei seinen Mit-Insassen ist er ein gern gesehener Besucher. „Klar, ich bringe ja Gutes“, verkündet er lächelnd.

„Gutes“ – das sind in der JVA Burg rund 6800 Medieneinheiten (Bücher und DVDs), bei 602 Häftlingen etwas mehr als zehn pro Kopf. Immer stärker nachgefragt werden DVDs.

Auf dem Wagen des Bibliothekars liegen eine französische Komödie, der jüngste Bond-Streifen „Spectre“ und „Kill Bill 2“. „Actionfilme und Thriller kommen ziemlich gut an“, sagt Walldorf. Entgegen allen Klischees liefen aber auch romantische Komödien etwa mit Jennifer Aniston im Knast bestens.

Ist es unproblematisch, dass brutale Action-Reißer à la „Kill Bill“ von Gefangenen, die mitunter selbst eine Gewalttat auf dem Kerbholz haben, geschaut werden. „Das ist kein Problem“, sagt JVA-Leiter Thomas Wurzel. Das Stichwort ist Medienkompetenz. Die Gefangenen müssen bewerten können, was über den Bildschirm flimmert. „Unser oberstes Gebot ist: Wir geben nur Filme bis FSK 16 aus. Die Gefangenen sehen nichts, was sie nicht auch in den Nachrichten zu Gesicht bekommen“, erklärt Wurzel.

Viel wichtiger, als bestimmte Stoffe zu verbieten, sei es, den Bestand fortlaufend zu aktualisieren, findet der Leiter. Ein Budget von 2000 Euro pro Jahr steht ihm dafür zur Verfügung. Spenden, die den Bestand qualitativ besser machen, werden gern angenommen. Diese Spenden zu prüfen, auch das ist die Aufgabe von Tom Walldorf. Er sichtet, ordnet und sortiert aus.

Die im Buch versteckte Feile sei übrigens ein Mythos. Wahrscheinlicher ist, dass aus Büchern wie „Jeder kann Gitarre lernen“ eine komplette Seite herausgerissen ist. Sei es, weil der Akkord bei Ablauf der Leihfrist noch immer nicht richtig sitzt oder, weil die Zigaretten-Blättchen plötzlich knapp wurden.

Nur bei einer Spende fand Walldorf einmal eine in das Buch geschnittenen Aussparung vor. „Eindeutig in der Form eines Flachmanns“, sagt der 50-Jährige belustigt. Die Häftlinge der JVA, bekräftigt er, gingen überwiegend sorgsam mit den Büchern um.

Noch fünf Jahre wird der frühere Techniker in der JVA den Bücherbestand verwalten. Auch wenn er dem Job einiges abgewinnen kann – seiner Entlassung fiebert er bereits jetzt entgegen.

Und was bleibt den Gefangenen von der Lektüre in der Haftzeit, wenn der große Moment der Entlassung naht? Thomas Wurzel: „Medienkompetenz und Lesen sind natürlich nur ein Baustein. Wir müssen den Gefangenen in ihrer Haftzeit vor allem vermitteln, dass sich ein Leben in Freiheit ohne Straftaten lohnt. Es gibt eine Menge zu entdecken und zu gestalten.“

Für seine Zukunft in Freiheit kann sich Tom Walldorf vorstellen, „etwas mit Büchern zu machen“. Auch die Rückkehr in seinen angestammten Beruf als Techniker sei denkbar. Er wisse, so Walldorf, dass der Neustart „nicht einfach“ wird. Im Rückblick wird man aber eines sagen können, sagt der 50-Jährige: „Die Arbeit mit Büchern hat mich sicher nicht dümmer gemacht.“

*Name von der Redaktion geändert