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Styropor Giftmüll an der Hauswand

Die Dämmstoffplatten sind seit Jahrzehnten Standard bei Fassadenisolierungen. Nun ist die Entsorgung auch in Sachsen-Anhalt ein Problem.

15.12.2016, 23:01

Magdeburg l Im Hinterhof eines Magdeburger Dachdeckers stapeln sich die Styroporreste. „Wir finden keinen Entsorger, der uns das Zeug abnimmt“, klagt Dachdecker Elmar Hanisch. Hagen Mauer, Präsident der Handwerkskammer Magdeburg, schlägt Alarm. „Die Situation ist dramatisch. Handwerksbetriebe bleiben auf dem Abfall sitzen. Sie sind gezwungen, Baustellen ruhen zu lassen, Mitarbeiter können nicht mehr beschäftigt werden“, sagt er.

Nach Angaben des Zentralverbands des Deutschen Handwerks liegen bundesweit Hunderte Baustellen brach, Dachdecker werden in Kurzarbeit geschickt, kleineren Betrieben droht sogar der Bankrott. Was ist passiert? Seit Oktober gilt Styropor, der mit dem giftigen Flammschutzmittel HBCD behandelt ist, als gefährlicher Abfall. Der Dämmstoff muss deshalb getrennt entsorgt werden. Für Müllverbrenner in Sachsen-Anhalt ist das ein Problem. „Wir können Polysterol-Monochargen nicht verbrennen“, sagt etwa der Geschäftsführer des Müllheizkraftwerkes Rothensee, Rolf Oesterhoff. Die neuen Regeln haben auch die Entsorger verunsichert. Viele Betriebe nehmen den Styropor-Abfall nicht mehr an.

Handwerker, Müllverbrenner und Entsorger haben bereits im September auf den drohenden Entsorgungsengpass hingewiesen. Damals beschlossen die Bundesländer die Änderung der Abfallverzeichnis-Verordnung und stuften HBCD-behandelten Styropor als gefährlichen Abfall ein. Vorausgegangen war eine Verordnung der Europäischen Union (EU). Diese Vorlage hätten die deutschen Länder aber viel zu scharf umgesetzt, kritisiert der Europaabgeordnete Sven Schulze aus Quedlinburg. „Die Einstufung von Styropor als gefährlicher Schadstoff muss wieder aufgehoben werden“, sagt Schulze. Das sei auch im Sinne des EU-Gesetzgebers, der das Flammschutzmittel HBCD nicht explizit als gesundheitsschädigend eingestuft habe, erklärt der CDU-Mann.

Auf der Umweltministerkonferenz vor zwei Wochen konnte aber keine einheitliche Lösung gefunden werden. In Deutschland ist deswegen jetzt ein Entsorgungs-Flickenteppich entstanden: Alle Bundesländer haben sich an individuellen Lösungen versucht. Sachsen-Anhalt ist mehr oder minder zur bewährten Praxis zurückgekehrt. Das Landesverwaltungsamt stellte per Mitteilung klar, dass Styropor wieder als Teil von Baumisch- abfällen entsorgt werden kann. Der Volumenanteil des Dämmstoffs dürfe nur nicht höher sein als 20 Prozent.

Doch trotz der angepassten Vorgaben werden Handwerker im Bundesland ihre Styropor-Abfälle nicht los. Die Situation ist für einige Betriebe existenzbedrohend. „Wir sind nicht in der Lage, Kostenvoranschläge für Kunden aufzustellen“, sagt Elmar Hanisch. Der 36 Jahre alte Dachdecker aus Magdeburger weiß derzeit nicht, wohin mit dem Dämmstoff-Müll. Preise für das Entsorgen des Abfalls kann er nicht kalkulieren. Reste eines der letzten Bauprojekte des 12-Mann-Betriebs liegen jetzt neben der Baracke im Hinterhof. Teile des Polysterol-Mülls hat Vater Eberhard Meyer notgedrungen für die Dämmung seiner Gartenlaube verwendet. Das Schlimmste ist aber die finanzielle Entwicklung. Dort, wo Styropor-Baumüll angenommen wird, explodieren die Preise. Bis September kostete die Entsorgung einer Tonne Polystyrol knapp 200 Euro, jetzt liegt der Preis bei bis zu 6000 Euro. „Die gesamte Branche ist verunsichert“, sagt der Innungsobermeister der Dachdeckerinnung Sachsen-Anhalt Süd, Jens Norbert Schmidt.

Im Bundesland holen Entsorgungsunternehmen das Material derzeit gar nicht von den Baustellen ab. „Wir nehmen kein Styropor mehr an“, sagt etwa Martin Watteroth vom mittelständischen Entsorger Stork in Magdeburg. Nach Volksstimme-Recherchen haben auch andere Entsorger im Norden des Bundeslandes den Polystyrol-Müll ausgesperrt. Viele Betriebe halten die Styropor-Reste allerdings nach wie vor für umwelt- und arbeitsschutzrechtlich unbedenklich. Auch der Bundesverband Deutscher Entsorger sieht das so. Eine Sonderbehandlung des Abfalls sei nicht erforderlich. Auch das spätere Verbrennen zusammen mit anderen Bauabfällen sei problemlos. Die getrennte Erfassung und gesonderte Entsorgung sei dagegen aufwendig und verteuere die Kosten, teilte der Verband mit. Watteroth will nun so lange warten, bis der Gesetzgeber die Einstufung von Styropor als gefährlichen Abfall wieder rückgängig gemacht hat. „Alles andere wäre nur Stückwerk und keine dauerhafte Lösung“, sagt er.

Deutschland gilt als Recycling-Vorreiter. Nirgendwo sonst in Europa gibt es schärfere Vorschriften als hier. Das Müllheizkraftwerk (MHKW) Rothensee im Norden der Landeshauptstadt Magdeburg darf rund 40 verschiedene Abfallarten verarbeiten. Jeder Mülltyp hat eine Nummer, den sogenannten Abfallschlüssel. Genehmigungen zu ändern oder neu zu beantragen, ist aufwendig. Für das Verbrennen HBCD-haltiger Dämmplatten besitzt das MHKW aus gutem Grund noch immer keine Erlaubnis. Denn Styropor kann nicht alleine verbrannt werden, es wird viel zu heiß. „Wir müssen es mit anderen Abfällen mischen und dann verbrennen“, erzählt Geschäftsführer Rolf Oesterhoff. Die Neu-Regelung der Länder zum Styropor-Recycling sei an der Wirklichkeit vorbeigegangen, sagt Oesterhoff.

Deutschlandweit fehlte Anfang Oktober vielen Müllverbrennungsanlagen die notwendige Entsorgungs-Genehmigung. „Die Politik hat die Latte hochgelegt, ohne zu schauen, ob das in der Praxis überhaupt funktioniert“, sagt der Manager. Seit Sachsen-Anhalt per Sonderregel zum ursprünglichen Verfahren zurückkehrte, werden die Dämmplatten zwar wieder als Teil von Baumischabfällen verbrannt. Doch tatsächlich findet Styropor nur noch selten den Weg in die Öfen. Oesterhoff fordert von den Bundesländern nun die Rückkehr zu einheitlichen Regeln.

Doch danach sieht es nicht aus. Bereits Anfang Dezember zerstritten sich die Umweltminister. Ein Antrag von Sachsen und Saarland, der eine Rückkehr zur Zeit vor der Verordnung vorsah, fand keine Mehrheit. „Unsere Hoffnungen richten sich an unsere Landesregierung. Wir erwarten, dass die Landesspitze die Wirtschaft nicht hängen lässt“, sagt Hagen Mauer, Präsident der Handwerkskammer in Magdeburg.

Am Freitag kommt der Bundesrat in Berlin erneut zusammen. Das Saarland plant, den Antrag wieder einzubringen. Sachsen-Anhalts Landesministerium für Umwelt, Landwirtschaft und Energie hält nichts davon, die Regeln für das Styropor-Recycling wieder zu ändern. Das Ministerium sehe keine Notwendigkeit, teilte eine Sprecherin mit. In dem Infoschreiben des Landesverwaltungsamts sei das Verfahren klar geregelt.