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Arche Für ein paar Stunden Normalität

Die Arche Stendal bietet sozial benachteiligten Kindern Betreuung und eine warme Mahlzeit. Ihr Leiter lebt selbst von Hartz IV.

Von Elisa Sowieja 22.12.2016, 00:01

Stendal l Zwischen Brettspielregal und Weihnachtsbaum spannt sich ein langer Bindfaden mit Metallhaken. Daran baumeln sie, dicht nebeneinander, jeder sorgfältig mit einem Namen versehen: die Adventskalender von Vincent, Alisa, Virginia, Razho, Emilie, Florian, Noél, ... Insgesamt rund 30 Stück. Bei manchen sind die Besitzer noch ein paar Schoko-stückchen im Rückstand. Viele sind aber auch bis zum aktuellen Türchen leergemampft, sie gehören den Kindern, die jeden Tag nach der Schule hier sind.

Die Kalender mit den Weihnachtsmännern, Eisprinzessinnen und Comic-Hunden machen einen wichtigen Teil des Gesamtpakets aus, das die Stendaler Arche ihren kleinen Besuchern bietet. „Wir schaffen für sie ein Stück Normalität. Sie sollen das erleben, was gewöhnlich alle Kinder am Nachmittag erleben“, erklärt Leiter Mario Tiesies – ein recht kräftiger Typ mit Schnauzer, ruhig, direkt und redegewandt.

Der Stadtteil, in dem die Freizeiteinrichtung liegt – Stadtsee –, gilt als sozialer Brennpunkt. Rund 80 Prozent der Arche-Besucher haben als Eltern Hartz-IV-Empfänger, die oft nicht in der Lage sind, ihnen Normalität zu bieten – etwa, weil sie Probleme haben, ihren Tag zu strukturieren oder ihr Geld einzuteilen. Hier werden die Kinder, zwischen sechs und zwölf Jahre alt, beim Spielen und Hausaufgabenmachen betreut, zudem bekommen sie kostenlos eine warme Mahlzeit.

Jeden Wochentag ab 12 Uhr steht für sie ein Team von Freiwilligen bereit. Derzeit sind das drei Ein-Euro-Jobber, zwei Bundesfreiwilligendienstler, zwei Praktikanten – und Mario Tiesies mit seiner Frau, sie sind schon immer dabei. Vor acht Jahren haben die beiden die Arche aus der Taufe gehoben. Seitdem treten sie hier fast jeden Tag an, um Bedürftigen zu helfen. Und das, obwohl sie selbst Hartz IV beziehen. Während Petra Tiesies schon früh zu Hause blieb, um sich um die vier Kinder zu kümmern, arbeitete ihr Mann erst als Ofensetzer und später, nach einem Bandscheibenvorfall, als Kaminverkäufer – bis seine Stelle ein Jahr nach der Arche-Gründung gestrichen wurde. Seitdem verschickt er erfolglos Bewerbungen.

Auf die Idee mit der Arche sind die beiden gekommen, als sie in einer anderen Mission für Bedürftige unterwegs waren: In den Räumen der freikirchlichen Gemeinde, in der sie Mitglied sind, schenkten sie einmal pro Woche Suppe aus. Dort fielen ihnen immer wieder Kinder aus Stadtsee auf. Sie nahmen eine Stunde Fußweg in Kauf. „Wer so weit für einen Teller Bohnensuppe läuft, der muss großen Hunger haben“, sagt Tiesies. „Da kann man nicht einfach wegsehen.“ Zu Weihnachten schenkte ihm seine Frau dann ein Buch über den Gründer der Arche in Berlin, die heute deutschlandweit an 20 Standorten sozial benachteiligte Kinder unterstützt. Er las es in derselben Nacht durch, sie am ersten Feiertag. Danach stand für beide fest: So etwas wollen sie auch machen.

Die Stendaler schauten sich die Berliner Arche an, an der sie sich bis heute orientieren. Dann trommelten sie acht Freunde zusammen und gründeten mit ihnen einen Verein. Die Suche nach einem bezahlbaren Gebäude dauerte allerdings anderthalb Jahre. Schließlich fand die Truppe einen alten Schreibwarenladen, den sie binnen sechs Wochen auf Vordermann brachte – Mario Tiesies damals noch neben seinem Vollzeitjob. Das Material für die Renovierung und die erste Miete wurden mit einer größeren Geldspende gestemmt, Einrichtung und Spielzeug brachten Stendaler nach einem Zeitungsaufruf vorbei. Mit einer Weihnachtsfeier wurde die Arche eröffnet.

Der Bedarf an Unterstützung für sozial schwache Kinder ist in Sachsen-Anhalt besonders hoch: Laut Bundesagentur für Arbeit lebt hierzulande jedes vierte Kind in einem Hartz-IV-Haushalt. Zuletzt waren es 65 000 Kinder unter 15 Jahren. Im Vergleich zu 2010 sind das zwar knapp 5500 weniger. Doch im Bundesvergleich leben häufiger als in Sachsen-Anhalt nur Kinder in Bremen und Berlin in Bedarfsgemeinschaften. Am seltensten betroffen ist der Nachwuchs in Bayern. Im Bundesschnitt ist jedes siebente Kind abhängig von Hartz IV.

Wer in der Stendaler Arche betreut werden will, der braucht zwar kein Geld. Er muss sich aber an klare Regeln halten. Eine lautet: Wer die Schule schwänzt, darf einen Tag lang nicht kommen. Bummler sind schnell entlarvt – denn viele Kinder gehen auf dieselbe Schule, und irgendwer petzt fast immer. „Zu Hause erfahren die Kinder oft Ungerechtigkeit“, erklärt Tiesies. „Da kommt es zum Beispiel vor, dass ein Kind ohne Grund von der Mutter angeschrien wird. Bei uns müssen sie keine Angst haben. Sie lernen aber auch, dass ihr Handeln Konsequenzen hat.“

Viele Eltern, sagt der Stendaler, würden das Angebot der Arche als selbstverständlich ansehen. „Das macht aber nichts. Wir spüren ja jeden Tag die Dankbarkeit der Kinder.“ Zum Beispiel dann, wenn Florian angewirbelt kommt – ein aufgeweckter Elfjähriger mit eisblauen Augen und verschmitztem Lächeln. Bevor er sich den kleinen Gummifußball schnappt, geht er zu Mario Tiesies, schüttelt ihm die Hand, antwortet auf dessen Fragen (Wie geht‘s dir? Hat dich in der Schule jemand geärgert?). Das macht hier zwar jeder. Er aber fragt dann zurück: „Und wie geht‘s dir?“ Jedes Mal.

Bis heute ist die Arche auf Spenden angewiesen, Fördermittel erhält sie nicht. Im Schnitt 2400 Euro im Monat fallen Tieses zufolge an Kosten an, vor allem für Miete, Nebenkosten und Lebensmittel, die hinzugekauft werden – einen Großteil spendieren Supermärkte. Inzwischen ist dank fester Spender stets der Großteil gedeckt. Die Werbetrommel rühren müssen die Tiesies trotzdem weiterhin. Zum Beispiel für ihren neuesten Plan: Sie haben einen Wohncontainer in Bayern im Auge, den sie gern kaufen und nach Stendal holen würden. Dann gäbe es auch Platz für ältere Kinder.

Abgesehen davon versucht Mario Tiesies seit Jahren, eine Stiftung oder eine Firma zu finden, die seine ehrenamtliche Stelle finanziert, damit er nicht mehr vom Staat leben muss. Bisher scheiterte es meist daran, dass er keine passende Ausbildung hat, etwa als Sozialarbeiter. Doch auch, wenn das mit der Bezahlung nicht klappt, will der Vereinschef weitermachen – aus seinem Glauben heraus, sagt er: „Ich will das, was ich sonntags in der Kirche höre, auch leben. Außerdem finde ich es als Lebensziel besser, Spuren zu hinterlassen als ein dickes Bankkonto.“