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Frauenhäuser Zuflucht - auch vor Frauen

Jedes Jahr fliehen rund 690 Frauen in ein Frauenhaus. Die Einrichtungen stehen wirtschaftlich vor Herausforderungen.

Von Anne Toss 04.01.2017, 00:01

Burg l Im September schleicht sich Elena Weber* mit ihren Kindern durch den Hintereingang aus einem Wohnblock hinaus. Nur das Allernötigste hat sie aus ihrer Wohnung mitgenommen. „Ich war verängstigt, wollte, dass man uns ja nicht sieht. Dass sie uns nicht sieht“, sagt Weber. Sie – das ist jene Frau, die Elena Weber monatelang erpresst, gestalkt und geschlagen hat, eine ehemals gute Freundin. Als die Freundschaft daran zerbrach, sah die alleinerziehende Mutter ihren einzigen Ausweg in der Flucht in ein Frauenhaus.

Um ihre Geschichte zu erzählen, ist sie an jenen Ort zurückgekehrt, an dem sie schlussendlich Zuflucht gefunden hat: in das Frauenhaus in Burg. Damals wie heute steigt Weber die 23 Treppenstufen hinauf, die zum Eingang des Frauenhauses führen. „Schon als wir im Bus und dann im Zug saßen, war ich erleichtert. Am Bahnhof in Burg fühlte ich mich dann völlig frei“, erinnert sich Weber an den Tag ihrer Flucht. Dass in diesem Moment Hunderte Kilometer zwischen ihr und ihrer Heimat lagen, war egal: „Hauptsache, der Ort ist sicher.“

So wie Elena Weber haben 691 Frauen im Jahr 2015 in einem der 20 Frauenhäuser in Sachsen-Anhalt Schutz gesucht. In den allermeisten Fällen gemeinsam mit ihren Kindern. „Wir haben fast genauso viele Kinder wie Frauen aufgenommen, nämlich 685“, berichtet Liane Kretschmer, Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft der Frauenhäuser im Land. Laut Justizministerium waren die Einrichtungen zwischen 37 und 109 Prozent ausgelastet. Ein Kontrast, der sich durch die verschiedenen Standorte in Großstädten und ländlichen Regionen ergibt.

Meist sind die Frauen Opfer von Beziehungstaten. Die Polizei in Sachsen-Anhalt spricht dann von sogenannter „Gewalt in engen sozialen Beziehungen“ (GesB). Darunter fallen Straftaten, bei denen Opfer und Täter zur Tatzeit Ehe- oder Lebenspartner sind beziehungsweise waren. Die aktuellsten Zahlen des Landeskriminalamts zeigen, dass 2015 3108 Frauen und 743 Männer Opfer von GesB wurden. Die Zahlen steigen seit 2010 fast kontinuierlich an, Körperverletzungen sind dabei die am häufigsten registrierten Delikte. Doch häusliche Gewalt ist bei Weitem nicht der einzige Grund dafür, dass Frauen Schutzhäuser aufsuchen. „Es gibt eben nicht nur die klassischen Fälle“, sagt Susann Schuster, Leiterin des Frauenhauses in Burg und Betreuerin von Elena Weber. Letztere sei das beste Beispiel dafür.

Über den Kindergarten ihrer Kinder lernte Weber eine Frau kennen, die sich zu einer „guten Bekannten“ entwickelt. Als sie verzweifelt auf der Suche nach einer neuen Wohnung in einer Großstadt ist, bietet die Freundin ihre Hilfe an. „Sie meinte, sie könne sich für mich mal umhören, und, dass sie selbst erst eine schöne Wohnung gefunden hat“, sagt Weber. Die Mutter nimmt dankend an – und kann tatsächlich kurze Zeit später mit ihren Kindern in eine neue Wohnung einziehen.

Doch nach dem Umzug beginnt der Psychoterror. Die Bekannte verlangt auf einmal Maklergebühren, die Weber allerdings an sie entrichten muss. Mehr als 6000 Euro habe sie gezahlt, sagt Weber – aus Angst. „Sie hat mir aufgelauert, sie hat mich geschlagen. Wir waren ja fast Nachbarn. Manchmal hat sie auch ihren Partner geschickt, der das Geld holen sollte.“ Nach jeder Zahlung dachte Weber, dass es vorbei ist. Doch auf jede Zahlung folgte nur eine neue Forderung. Weber wendete sich an die Polizei.

Allerdings bekommt sie dort lediglich den Ratschlag, einfach umzuziehen. „Das sagt sich leicht, wenn man den Berg, der seit Monaten die Psyche belastet, nicht sieht“, wirft Susann Schuster ein. Außerdem war es längst nicht mehr nur die Bekannte, die Elena Weber in Panik versetzte. „Ich habe ihr ein ganzes Netz an Personen zugetraut, die für sie die Aufgabe übernehmen, mich zu finden. Hinter jedem Baum habe ich jemanden vermutet“, sagt Weber. Die endgültige Entscheidung zur Flucht fällt, als die Bekannte Webers Tochter angreift. „Da wusste ich, es gibt keine andere Möglichkeit, ich muss in ein Frauenhaus gehen.“

Die Kinder geben oft den Ausschlag für die Frauen, ihre jetzige Situation zu verändern. Susann Schuster arbeitet in den Beratungen mit sogenannten Genogrammen, einer Art Familienstammbau, in dem aber zum Beispiel auch Verhaltensmuster dargestellt werden. „Gewalterfahrungen zeichne ich meistens mit roter Farbe ein. Wenn wir die Familiengeschichte besprochen haben und bei den Kindern ankommen, sehen die Frauen oft: Der rote Faden zieht sich durch das ganze Leben durch. Sie erkennen, dass sie jetzt die Möglichkeit haben, das Leben ihrer Kinder nachhaltig zu verändern – wenn sie einen Schnitt machen.“ Doch oft braucht es Zeit, bis die Frauen den roten Faden akzeptieren, die anfängliche Vermeidung überwinden. Zeit, in der die Kinder mit ihren Müttern im Frauenhaus wohnen – spezielles Personal, das sich um die Kinder kümmert, haben jedoch nur zwei der 20 Frauenhäuser im Land. „Es muss einfach mehr Fachpersonal für die Betreuung der Kinder geben“, sagt Liane Kretschmer, Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft der Frauenhäuser.

Ihre Kollegin Susann Schuster betont: „Wir haben genauso viele Kinder in Frauenhäusern wie Frauen – warum sollten wir den Kindern Hilfe vorenthalten?“ Oft bekämen insbesondere aggressive Kinder Hilfe, weil sie am meisten auf sich aufmerksam machen. „Da, wo es nicht wirklich nach Problem stinkt, da guckt keiner hin. Die Kinder fallen hinten runter, nur weil sie nicht die schlimmsten Geschichten erzählen können. Hilfe brauchen sie aber trotzdem“, sagt Schuster.

Liane Kretschmer und Susann Schuster sind gespannt, ob ein Antrag, den CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen im August im Landtag eingereicht haben, die Situation verändert. Darin heißt es, dass die Betreuung und Hilfsangebote für in Frauenhäusern untergebrachte Kinder sicherzustellen seien.

Ein Kritikpunkt ist, dass die Forderung nur umgesetzt wird, wenn die Haushaltsmittel dafür zur Verfügung stehen. Ob das der Fall sein wird, ist fraglich – die Regierung strebt einen ausgeglichenen Haushalt an, im November stellte sich jedoch heraus, dass man sich bei der Haushaltsplanung 2017/2018 verkalkuliert hat. Im Kassenplan klafft also ein Loch.

Elena Weber hat mittlerweile den Sprung zurück in ein selbständiges Leben geschafft. Sie wohnt in einer eigenen Wohnung, die Kinder haben sich in ihr neues Umfeld integriert. „Natürlich sitzt mir die Angst noch im Nacken. Man denkt darüber nach, was einem passiert ist. Träumt nachts davon“, sagt Weber. Die Möglichkeit, in ihre Heimat zurückzukehren, hat für sie nie bestanden – obwohl ihre Kinder es gerne gewollt hätten. Dennoch ist sie überzeugt: „Es geht aufwärts.“ Ohne die Unterstützung des Frauenhauses wäre das so nicht möglich gewesen.

Neben all der Freude für ihren Schützling blickt Susann Schuster skeptisch in die Zukunft. „Unser Haus ist jedes Jahr wirtschaftlich bedroht.“ Im kommenden Jahr wird sie deshalb die Tagesnutzungsgebühr, also den Selbstzahlerbeitrag der Frauen, von 4,60 auf 15 Euro anheben. „Frauen, deren Aufenthalt vom Jobcenter finanziert wird, bleiben dann vielleicht länger, als jene, die selbst zahlen müssen – obwohl die Probleme nicht gelöst sind. Das sehe ich sehr dramatisch.“

Frauenhäuser sind eine freiwillige Aufgabe, also auf die Finanzierung durch Land und Kommunen angewiesen. 2016 hat das Land den Trägern der 20 Frauenhäuser 1 346 300 Euro zur Verfügung gestellt. „Wenn die Fördersumme nicht ausreicht, muss der Träger sehen, wie Geld reinkommt“, so Schuster. Und das passiere dann auch über Mieten.

Anmerkung der Redaktion: Zum Schutz der Frau hat die Redaktion Namen und Orte geändert. Auch Details aus ihrer Lebensgeschichte wurden weggelassen.