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Textilforschung Sachen können Sachen

Beheizbare Unterwäsche, Tapete zur Schimmelvorbeugung: Es gibt immer mehr intelligente Textilien. Auch Magdeburg leistet einen Beitrag.

Von Elisa Sowieja 08.01.2017, 00:01

Magdeburg l Erinnern Sie sich noch an die abgefahrenen Schuhe, die Marty McFly, alias Michael J. Fox, im Kultfilm „Zurück in die Zukunft II“ trug? Diese Nikes, die sich selbst zuschnüren, wenn man hineinschlüpft? Utopische Spinnerei war das. Zumindest damals, im Jahr 1989. Inzwischen, seit gut einem Monat, gibt‘s solche Teile in den USA im Laden zu kaufen. Es sind Textilschuhe mit einem Motor und einem Sensor in der Sohle.

Stoffe können längst viel mehr als nur gut aussehen. Forschungsinstitute und Firmen erfinden ständig neue Produkte, die Textilien mit Technik verbinden – sogenannte Smart Textiles. Deutschland muss sich dabei keineswegs hinter den USA verstecken. Deutsche Unternehmen sind laut Gesamtverband der Textil- und Modeindustrie bei technischen Textilien sogar Weltmarktführer. Auch Magdeburg leistet dazu einen Beitrag.

Am Fraunhofer Institut arbeitet Wirtschaftsingenieur Martin Woitag und ein Informatiker seit zehn Jahren an intelligenten Stoffen. Ihre Spezialität ist es, Druck zu messen und abzubilden. Eine ihrer jüngsten Entwicklungen hat es bereits in die Praxis geschafft, genauer gesagt in die Klinik: eine Matte, die Druckgeschwüren vorbeugt. „Das hilft besonders bettlägerigen Patienten“, erklärt Woitag.

Die Matte misst permanent, wie sich der Druck auf ihr verteilt, sodass man erkennt, wenn jemand zu lange in einer Position liegt. Und das geht so: In den Baumwollbezug einer Schaumstoffmatte sind elektrisch leitende Fäden eingestrickt – auf der Oberseite horizontal, auf der Unterseite vertikal. Wenn jemand darauf liegt, kreuzen sich an den Druckpunkten die Linien. Diese Kontaktstellen wirken als Sensoren, deren Daten über ein Kabel an einen Computer weitergeleitet werden. Der Monitor bildet dann auf einem farbigen 3-D-Diagramm die Druckverteilung ab. Sind Flächen dauerhaft rot, weiß der Pfleger, dass er den Patienten bewegen sollte. Es gibt sogar einen Prototypen, bei dem die Matte dem Patienten Druck entgegensetzt und so das Bewegen übernimmt.

Grundsätzlich wäre so eine Messung zwar auch mit Folie möglich. „Aber Textil ist preisgünstiger und sehr atmungsaktiv“, erklärt der Ingenieur. Der Auftraggeber, eine Reha-Fachhandelskette aus Heidelberg, vermietet die Geräte heute an Krankenhäuser. Außerdem nutzt sie eine abgewandelte Version: Mit der kann man den Gesäßabdruck von Rollstuhlfahrern auf den Computer bringen und damit ein passgenaues Sitzkissen finden.

Aktuell arbeiten die Magdeburger schon am nächsten Schritt: „Wir entwickeln ein Modulsystem, mit dem man sich die Matte für seinen Anwendungsbereich selbst zusammenstellen kann.“ Frei wählbahr sind dann Faktoren wie Materialstärke und Härte. So könnte man sogar Druck an Kleidung messen. Interesse bekundet hat Woitag zufolge zum Beispiel die Polizei: Ein T-Shirt, das ein Druckprofil erstellt, könnte ihr bei der Ausrüstung eines besonders rückenschonenden Rucksacks helfen.

In Deutschland tüftelt man schon seit Mitte der 90er Jahre an Stoffen mit Grips. Der Pionier sitzt im Osten. Das Textilforschungsinstitut Thüringen-Vogtland in Greiz begann damals, mit elektrisch leitenden Fasern und Geweben zu experimentieren. Einige Jahre später entstand dort ein Garn aus silberummanteltem Polyamid (Elitex), das heute vielen von uns in frostigen Wintertagen einen warmen Allerwertesten beschert. Denn damit werden Autositze beheizt.

Die Baumwolle mit den elektrisch leitenden Fäden, die das Fraunhofer-Institut nutzt, kommt ebenfalls aus Thüringen – allerdings von keiner Forschungseinrichtung, sondern von einem mittelständischen Unternehmen. Die Strickerei WarmX in Apolda hat den smarten Stoff vor zehn Jahren entwickelt, und zwar für ein eigenes Produkt: beheizbare Unterwäsche. Dabei ist die Klamotte über Kabel mit einem akkubetriebenen kleinen Stab verbunden, mit dem man die Heizung reguliert. Das System ist patentgeschützt. Shirts, Unterhosen, Strumpfhosen: Um die 100 Stück pro Jahr gehen nach Angaben der Firma weg, vor allem übers Internet. Und an wen? „Mehr als die Hälfte der Käufer sind Jäger“, sagt Geschäftsführer Gerald Rosner.

Aber auch in anderen Ecken der Republik sind in den vergangenen Jahren intelligente Textilien entstanden, die es entweder schon jetzt oder in nächster Zeit zu kaufen gibt:

  • Ein Textilhersteller in Nordrhein-Westfalen feilt an einem Stoff, mit dem man Schimmel an Gebäuden vorbeugen kann: Eine Art Tapete mit sensorischen und leitenden Garnen misst an der Innenseite der Außenwände die Feuchtigkeit. Wird ein bestimmter Wert überschritten, erwärmt sich ein Garn. Ende 2017 soll der Stoff auf den Markt kommen.
  • Von einem Mittelständler aus dem Allgäu stammt ein Sicherheitsgurt, der mithilfe integrierter Mikrofone auch als Freisprechanlage dient. Hierzu wird ein elektrisch leitfähiger Faden in das Gewebe der Gurte eingearbeitet. Genutzt wird das Ganze im Audi A8 Spyder.
  • Spannend für Senioren mit Herz-Kreislauf-Schwäche: In drei bis vier Jahren soll es ein T-Shirt mit lebensrettenden Funktionen geben. Es erfasst kontinuierlich Daten wie Herzfrequenz, Puls und Atmung und alarmiert im Falle des Falles den Notruf.

In anderen Ländern mischt man beim Thema Smart Textiles ebenfalls mit. Manche Erfindungen haben einen Sinn, andere – sagen wir – Unterhaltungswert:

  • Noch in diesem Jahr sollen Radler über ihre Jacke telefonieren können. Google und Levi Strauss entwickeln eine intelligente Jeansjacke, deren Ärmel Gesten erkennt und via Bluetooth ans Smartphone weitergibt.
  • Eine andere schlaue Jacke gibt‘s bereits, und zwar von Tommy Hilfiger. Mit der kann man sein Handy aufladen. Sie hat auf der Rückseite Solarzellen, die einen Akku in der Innentasche mit Strom versorgen.
  • Eine kanadische Professorin und ihr Kollege aus London haben bereits vor Jahren eine Klamotte präsentiert, die Heimweh erspürt und sogar Abhilfe schafft: Sie spielt dem Träger die Stimme seines Herzblatts ab oder auch einen Lieblingssong – und zwar über die Kapuze, in der Lautsprecher eingebastelt sind.
  • Microsoft lässt sich auch nicht lumpen: Der Konzern forscht an einem BH, der anhand der elektrischen Aktivität des Herzens Stresssituationen erkennt. Noch nicht bekannt ist, ob er auch reagieren kann. Zum Beispiel mit Lieblingsmusik. Oder mit ein bisschen Druck, als Kuschelersatz.