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Zeitumstellung Alle Zeiger voraus im tickenden Haus

Am Sonntag beginnt die Sommerzeit. Ein Sammler an der Grenze zur Altmark stellt dann Hunderte Uhren vor.

Von Elisa Sowieja 25.03.2017, 00:01

Velpke l Zur vollen Stunde muss man lauter reden. Dann dingt und klongt und klappert es - das Tick-Orchester im Hause Tiede ist in seinem Dauer-Konzert mal wieder beim Refrain angelangt. Der Hausherr bemerkt die Geräusche schon gar nicht mehr. "Ich höre nur, wenn eine Uhr mal nicht richtig läuft", referiert er über das Dingen und Klongen routiniert hinweg. "Dann fehlt etwas."
Nach 30 Jahren kaum verwunderlich. So lange schon sammelt und restauriert der Rentner aus Velpke an der Grenze zur Altmark Uhren. Sie stehen und hängen in jedem Raum, am dichtesten besiedelt ist der Keller. Hunderte sind es mit Muss. Wie viele genau, will Tiede nicht sagen - eine Bitte der Versicherung.
Die Palette reicht von Klassikern wie Stand-, Schwarzwälder- und Buffetuhren bis hin zu Kuriositäten, so etwa die Mini-Uhren, die in einen Koffer eingebaut sind oder in eine Replik des "Letzten Abendmahls".
Die meisten Zeitmesser hat Tiede - biologisch 80, gefühlt 65 Jahre alt - auf Flohmärkten gefunden. Um an die Sahnestücke zu kommen, war allerdings mehr Aufwand nötig. Zum Beispiel für die Bahnhofsuhren. Weil der Sammler unbedingt eine haben wollte, hat er sich durch die halbe Republik telefoniert, ist auf gut Glück nach Klötze und Braunschweig gefahren. Inzwischen besitzt er vier Stück.
Der Höhepunkt seiner Sammlung aber sind die sechs Kirchtumuhren. An die kam der Sammler nur mit viel Glück. "Denn die Kirchen dürfen ihren Besitz nicht verkaufen", erklärt er. Da die mechanischen Zählwerke aber meist auf den Kirchtürmen vor sich hinrosten, nachdem sie ausgetauscht sind gegen elektrische, haben einige Pfarrer eine inoffizielle Ausnahme gemacht. Das älteste seiner Zählwerke stammt aus dem 16. Jahrhundert. Es hat fast die Größe eines Kleinwagens, statt Schrauben halten seine Einzelteile Keile zusammen. Zu diesem Schmuckstück besitzt er sogar ein Ziffernblatt. Als Tiede die Uhr ergatterte, musste er erstmal zwei Wochen lang täglich auf den Turm klettern und den Rost abschrubben. "Vorher hätte ich sie nicht auseinandergebaut bekommen." Zu Hause polierte er dann die 360 Einzelteile und setzte sie wieder zusammen.
Eine Ausbildung zum Uhrmacher hat Karl-Heinz Tiede nicht. Der gelernte Großhandelskaufmann arbeitete früher in einem ganz anderen Metier: als Sachbearbeiter bei VW. Seine Expertise hat er sich in Eigenregie beigebracht. Keine große Sache, findet er: "Vom Grundsatz her kann der Mensch fast alles. Ich habe ja auch mein Haus selbst gebaut, obwohl ich kein Maurer bin." In die Uhren denke er sich einfach hinein. "Man überlegt, wofür ein Teil da sein könnte."
Mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung hilft der 80-Jährige übrigens gerade auch dem Heimatverein in Oebisfelde (Landkreis Börde). Der bringt die alte Rathaus-Turmuhr seines Ortes wieder in Schuss. Tiede fährt jeden Donnerstag vorbei und macht mit. Im Mai, wenn das Heimatmuseum nach der Winterpause wieder öffnet, will die Truppe fertig sein.
Der 80-Jährige hat in seine Uhren schon viel Geld investiert. Einige Stücke haben sogar um die 2000 D-Mark gekostet. "So etwas tut schon weh. Aber wenn ich etwas anfange, ziehe ich das auch durch. Außerdem habe ich das Glück, eine Frau zu haben, die mein Hobby unterstützt. Wenn ich bei einer Uhr mal geknausert habe, meinte sie meist: ,Nimm sie, das schaffen wir schon.'"
Sie stört es auch nicht, dass seit Jahrzehnten immer wieder Besuchergruppen durchs Haus tapsen. Kitas, Kegelvereine, Gartensparten. Eintritt will Karl-Heinz Tiede nicht haben ("Ich sag so ungern danke."). In den letzten Jahren allerdings, erzählt er, kamen weniger Leute als früher. "Wahrscheinlich, weil ich nicht mehr so oft in der Zeitung und im Fernsehen bin."
Am Sonntag hat der Rentner auch ohne Besuchergruppe volles Programm: Er muss alle seine Schätze auf die Sommerzeit umstellen - jede einzelne um eine Stunde nach vorn.
Wenn's im Herbst an die Winterzeit geht, ist die Sache immer noch umständlicher. Warum? "Man darf eine mechanische Uhr nicht zurückstellen, sonst geht sie kaputt", erklärt der Fachmann. Also hilft nur ein Trick: Er hält alle Uhren für eine Stunde an. Er muss sich also jeder Uhr zweimal widmen. Das dauert.
Aber auch diesmal ist der Sammler gut beschäftigt: "Der Sonntagvormittag ist nur für die Uhren da." Geht ihm das Prozedere nach all den Jahren nicht langsam auf den Zeiger? Tiede schüttelt den Kopf. "Bisher nicht." Wohl auch deshalb, weil er weiß, was er an seinen tickenden Schätzen hat: "Was unsere Vorfahren ohne große Gerätschaften per Hand gefertigt haben, das ist einfach faszinierend."
Wer das Uhrenhaus besichtigen will, kann sich bei Karl-Heinz Tiede melden, Tel.: (0?53?64)?38?04.