1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. In zwölf Jahren nicht einen Meter gebaut

AutobahnIn zwölf Jahren nicht einen Meter gebaut

Im Mai 2005 bekam die Autobahn 143 bei Halle die Baugenehmigung. Vielleicht wird 2018 der erste Bagger anrollen.

Von Jens Schmidt 18.05.2017, 01:01

Halle l Am Horizont schimmern die Wohnblocks und Schornsteine von Halle; schon etwas deutlicher sind die Häuser in Salzmünde zu sehen. Davor schlängelt sich silbergrau die Saale durchs Land. Neben ihr breiten sich die Auen aus: Wiesen und Äcker; grün, braun, platt – bis zu diesem eigenartigen, hügeligen Wall. Einige Kilometer ist er lang, aber nur 20, 30 Meter hoch. Fremd wirkt der kleine Höhenzug in der Ebene, fast so, als hätte ihn jemand künstlich erschaffen. „Porphyrkup-penlandschaft Brachwitz“ heißt die Hügelkette im Nordwesten von Halle.

Den Fels überziehen eine karge Erdschicht und eine dünne Haut aus Trockenrasen. Auf dem kargen Grund gedeiht eine selten gewordene Orchidee – das Kleine Knabenkraut. Und weil das alles so selten und seltsam ist, ließ Sachsen-Anhalt das Areal unter strengen Schutz stellen. 674 Hektar, 900 Fußballfelder groß. Es gehört zu einem der vielen Flora-Fauna-Habitat-Gebiete europäischen Rangs, kurz FFH. Die drei Buchstaben sind mittlerweile zum Schrecken aller Investoren geworden: Wer in einem FFH-Gebiet bauen will, braucht viel Zeit, Geld und Nerven.

Die Autobahn A 143 ist Teil der mitteldeutschen Schleife um Halle und Leipzig. Sie verbindet die Trassen von A 14 und A 38. Für Nord-Süd-Reisende und viele Hallenser ein Traum: Endlich muss man nicht mehr den weiten Bogen übers Schkeuditzer Kreuz schlagen oder sich durch Halle quälen. Daher soll die Autobahn unbedingt gebaut werden.

Der erste Teil ist längst fertig. Nun fehlen noch zwölf Kilometer. Doch die haben es in sich. Die Piste muss durch die Porphyrkuppen. Den Planern war schon 2005 klar: Einfach durch – das würde nie genehmigt. Also ersann man Folgendes: Dort, wo die Straße den Höhenzug durchschneidet, wird die Piste sieben Meter tiefer gelegt, darüber kommt ein Betondach – so entsteht eine Art Tunnel. Auf dem Tunneldach wird die streng geschützte Porphyrlandschaft nachgebildet: Mit Steinen, Erde und Trockenrasen. Und weil das Kleine Knabenkraut, die seltene Orchidee, Abgase schlecht verträgt, sollen Schafe auf dem Rasen weiden. Die Idee: Der Stickstoff wandert aus den Auspuffen der Autos ins Gras und von dort in die Mägen der Tiere – die dann alles Verdaute im Stall oder anderswo, Hauptsache weit weg vom Knabenkraut, ausscheiden. Die Planer waren sich sicher: Die Sache ist juristisch wasserdicht. So viel Tam Tam wurde bei noch keiner Autobahn in Sachsen-Anhalt gemacht. So viel Kosten auch nicht. 240 Millionen Euro für zwölf Kilometer – das ist Rekord.

Der Naturschutzbund (Nabu) klagte dennoch. Die Eingriffe seien erheblich, ein Totalverlust drohe und außerdem: Muss es unbedingt eine Autobahn sein? Das war 2005. Die Klage ging an das Bundesverwaltungsgericht Leipzig. 2007 urteilte die oberste Instanz: Der Nabu hat recht. Zwar rüttelten die Richter nicht am Autobahnbau grundsätzlich, doch die Pläne mussten erheblich nachgebessert werden. Vor allem wurde dem Land aufgetragen, die Europäische Kommission um Erlaubnis zu fragen, wenn man schon so ein einzigartiges Schutzgebiet durchschneidet.

Pläne wurden schließlich überarbeitet, Kartierungen erneuert. Das zog sich. Erst 2012 wurde dann die EU eingeschaltet. Die erstellte eine lange Mängelliste, die abzuarbeiten wäre, ehe sich Brüssel weiter damit befasst. Im März 2015 wurden Planer und Fachbeamte von Bund und Land in Brüssel vorstellig. Die EU-Kommission beharrte darauf, eine zweite Trassenlinie präzise zu prüfen, um die Porphyrkuppen zu umkurven. Dass diese Variante weitere 175 Millionen Euro kosten würde, beeindruckte Brüssel nicht. Zähe Debatten deuteten sich an. Um sich die zu ersparen, steuerte der Bund im Dezember 2015 um: Die Kassen waren mittlerweile gut gefüllt, also wurde noch mehr Geld ausgegeben, um die Naturschutzbauten aufzurüsten.

Der Landschaftstunnel wird von 250 auf 300 Meter verlängert und mit einer besseren Entlüftung ausgerüstet. Außerdem gilt im Naturschutzareal nun ein Tempolimit von 100, im Tunnel sind es 80, um Abgase und Lärm zu reduzieren. Fazit der Planer: Die Stickoxidbelastung sinkt, der Eingriff ins Schutzgebiet sei nun nicht mehr „erheblich“ – also muss die EU-Behörde nicht mehr eingeschaltet, sondern nur noch unterrichtet werden. Der Nabu meldete Zweifel an. Doch Verkehrsminister Thomas Webel strahlte. „Das ist ein Durchbruch. Dadurch gewinnt das Verfahren an Rechtssicherheit.“ 2016 wurden alle Pläne öffentlich ausgelegt. Wieder gab es Einwände – insgesamt 49. Naturschützern etwa geht es um Streusalze, die das Grundwasser belasten können; das verstößt gegen die „EU-Wasserrahmenrichtlinie“. Also wird ein Regenbecken nachgerüstet.

Doch es geht nicht nur um Stickstoff, es geht auch um Lärm. Vor allem in Friedrichsschwerz. Ein paar Häuser, 300 Einwohner, eine schmale Straße, kaum ein Auto stört die Ruhe im abgeschiedenen Ort. Mit der A 143 wird alles anders. Die Piste kommt den Häusern bis auf 200 Meter verdammt nah. Anwohner fordern, dass der Landschaftstunnel verlängert wird, um den Schall aufzuhalten. Sie schrieben schon an Minister Webel.

Die Planer äußern Verständnis – wer will schon neben einer Autobahn wohnen –, doch sie machen den Anwohnern keine Hoffnung. Jeder Meter Tunnel kostet 100 000 Euro. Außerdem sollen Tempolimit und Erdwälle das nervsägende Rauschen dämpfen. 49 Dezibel sind nachts maximal erlaubt. Für den Dorfrand errechnen die Ingenieure 46,9. Gesetz ist Gesetz. Doch beruhigen kann das niemanden. „Für Pflanzen und Tiere wird viel Geld ausgegeben“, sagt Wilfried Böltzig. „Man muss doch auch mal an die Menschen denken.“ Der 74-Jährige wohnt schon immer im Ort, kennt jede Ecke und jede Familie.

Im Frühjahr wurden die erneut geänderten Pläne wieder ausgelegt. Eine der Neuerungen: Für die Zwergdommel, eine kleine Reiherart, werden neue Brutplätze eingerichtet. Weil es dem Vogel an der A 143 zu laut werden könnte. Es gibt dennoch 47 Einwände. Jörg Przesang, Webels oberster Straßenplaner, sieht aber keine hohen Hürden mehr. Ende des Jahres dürfte es grünes Licht geben. Klagt niemand, können 2018 die ersten Bagger anrollen. Und 2021 die Autos und Laster.

Klagt wieder jemand? Der Naturschutzbund entscheidet erst, wenn alle Papiere vorliegen. Und die Anwohner? Wahrscheinlich nicht. Wilfried Böltzig seufzt: „Wir können den Fortschritt nicht aufhalten.“ Von seinem Wohnzimmer aus guckt er mit seiner Frau künftig mal auf die Autobahn. Heute ist da ein gelbes Rapsfeld.