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AbwasserstreitVerbände kassieren weiter ab

Trotz Moratorium kassieren Abwasserverbände in Sachsen-Anhalt weiter. Tausende Eigentümer verlieren so ihre Chance, Geld zurückzubekommen.

Von Jens Schmidt 10.12.2016, 00:01

Magdeburg l Für 80.000 Hausbesitzer und Firmen kam mit der Rechnung der Schock. Ein Milchviehbetrieb bei Wolmirstedt etwa sollte über Nacht 30.000 Euro hinblättern. „Der Chef kam zu mir mit Tränen in den Augen“, berichtet Stefan Heinrichs von der Wolmirstedter Bürgerinitiative. Betroffen sind auch Eigenheimbesitzer. Vor allem Altanschließer, deren Häuser schon seit Jahrzehnten am Netz sind. Sie alle sollen nachträglich Tausende Euro für die Modernisierung des Abwasser- und Trinkwassernetzes aus den 90er Jahren bezahlen. Die Gemeinden und ihre Zweckverbände hatten es jahrelang unterlassen, Rechnungen zu schicken.

Eigentümer noch Jahrzehnte nach Kanalbauarbeiten abzukassieren, ist grundgesetzwidrig. Seit 2016 gilt in Sachsen-Anhalt daher eine Obergenze von zehn Jahren. Der Haken: 2015 hatte die Landesregierung den Verbänden erheblichen Druck gemacht, vor dem Start der Verjährungsfrist doch noch Alt-Rechnungen aufzumachen. Ein Paragraf im Abgabengesetz legitimierte die Aktion. Sie soll 120 Millionen Euro in die Kassen spülen. 50.000 Betroffene legten Widerspruch ein. Die Linke hält die Ein-Jahres-Aktion für rechtswidrig und erhob Klage beim Landesverfassungsgericht Dessau. Am 24. Januar fällt das Urteil.

Kippt das Gericht die Kassierpraxis, haben Betroffene gute Chancen, ihr Geld zurückzubekommen. Aber nur unter einer Bedingung: Sie müssen Widerspruch eingereicht haben und vor allem: ihr Verfahren darf noch nicht abgeschlossen sein. Das ist genau so im benachbarten Brandenburg zu sehen: Wer sich gewehrt hat, bekommt sein Geld wieder. Das Land hat für Rückzahlungen 250 Millionen Euro bereitgestellt. Wer aber die Rechnung akzeptiert hatte, kann nicht mit einer Gutschrift rechnen.

Die neue CDU-SPD-Grünen-Koalition hatte in Sachsen-Anhalt im Mai ein Moratorium beschlossen: Verbände können die Verfahren auf Eis legen – bis das Verfassungsgericht urteilt. Das Problem: Das ist ein Kann – aber kein Muss. Viele Verbände denken gar nicht daran, Kulanz walten zu lassen. Andreas Beyer, Geschäftsführer des Verbands Bode-Wipper in Staßfurt: „Das Moratorium ist Unfug. Erst hält uns das Land an, Beiträge zu erheben – und jetzt heißt es, wir sollen alles liegen lassen." 350 Widersprüche wurden abgelehnt. Jörg Meseberg, Chef vom Wolmirstedter WWAZ, meint: „Ich hafte als Geschäftsführer auch persönlich und würde zu hohe Risiken eingehen, wenn ich untätig bliebe."

Bei ihm liegen 9000 Widersprüche auf dem Tisch. In den nächsten Tagen sollen die Verfahren erstmal ruhen. Aber mehr als 1000 Betroffene haben bereits Post bekommen. Dann bleibt ihnen  vier Wochen Zeit, um zu klagen. „Doch die wenigsten haben Nerv und Geld, den mühsamen Klageweg zu gehen", sagt Holger Neumann, Landeschef vom Interessensverband Haus und Grund. Verstreicht die Zeit, wird der Zahlbescheid rechtskräftig, und es verstreicht auch die Chance, je Geld wiederzubekommen – selbst wenn die Dessauer Richter das Abkassieren als verfassungswidrig einstufen.Sein Fazit: „Das Moratorium ist einfach nur Müll." Das Land hätte den Verbänden präzise gesetzlich vorschreiben müssen, die Widersprüche auf Eis zu legen. „Wir haben das den Koalitionsfraktionen mehrfach erklärt. Aber: Entweder wollen sie das nicht verstehen oder sie können es einfach nicht."

Auch im Süden des Landes gibt es ein gemischtes Bild. „Manche Verbände wie Weißenfels halten sich an das Moratorium, andere wie Zeitz nicht", sagt Wolf Beck, Sprecher vom Initiativnetzwerk Kommunalabgaben in Teutschenthal (Saalekreis). Die Opposition von Linkspartei und AfD hatte die Koalition auch dringend vor einer Kann-Lösung gewarnt. Kerstin Eisenreich: „Wir haben diese Probleme kommen sehen." Innenpolitiker Rüdiger Erben (SPD) meint, Zwang sei nicht machbar gewesen, da das Land nicht zu stark in die kommunale Selbstverwaltung eingreifen dürfe. Er versteht aber nicht, warum Verbände das Moratorium nicht einhalten. „Manche wollen auf Biegen und Brechen Geld eintreiben."

Neumann fordert alle Verbände auf, bis zur Urteilsverkündung im Januar die Verfahren auf Eis zu legen. Und sollten doch Bescheide in den nächsten Tagen in der Post liegen, sollten Altanschließer eine Klage erwägen. Vor allem jene, deren Haus schon vor 1992 angeschlossen war, haben nach Neumanns Einschätzung eine gute Erfolgsaussicht.