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Antisemitismus Umgang mit dem „Judensau“- Schandmal

Mit „Judensau“ und anderen Darstellungen haben Christen Juden erniedrigt. Die Gemeinden in Sachsen-Anhalt gehen damit unterschiedlich um.

Von Jörn Wegner 27.10.2016, 01:01

Magdeburg/Calbe/Zerbst l Wer sie nicht sucht, wird sie kaum entdecken: die kleine Figur an einem der Strebepfeiler der Stephani-Kirche in Calbe. Zwischen einer Teufelsdarstellung, einem überfressenen Fettwanst und einigen Tiergestalten findet sich das Bild eines Juden, der den Hintern eines Schweins küsst.

St. Stephani gehört zu den rund 25 Gebäuden in Deutschland, meist Kirchen, an und in denen eine „Judensau“ zu sehen ist. Juden sollten so erniedrigt und beleidigt werden. Für Aufsehen sorgte jüngst die „Judensau“ an der Wittenberger Stadtkirche, als der Londoner Theologe Richard Harvey ihre Entfernung forderte.

Das Interesse an Calbes „Judensau“ ist weitaus geringer. Das Thema kam überhaupt erst auf den Plan, als vor Jahren eine E-Mail im Gemeindebüro einging, berichtet Pfarrer Jürgen Kohtz. Der Absender hatte die Gemeinde auf die Figur aufmerksam gemacht und den kritischen Umgang mit ihr gefordert. „Darauf mussten wir adäquat antworten“, sagt Kohtz. „In der Judensau steckt geballte Geschichte. Wie gehen wir Bürgerinnen und Bürger mit diesem Schandmal um?“

Eine Antwort darauf findet sich im Inneren von St. Stephani. Calbes massive gotische Kirche dominiert das Stadtbild. Ihre 57 Meter hohen Türme gehören zu den höchsten des Landes. Der Innenraum wirkt schroff und kahl, vielleicht so puristisch, wie sich Luther einst Kirchen vorgestellt hat. An Wänden und Pfeilern sind heute Ausstellungstafeln und Texte aus allen Weltreligionen zu lesen und zu sehen. Mit der Wanderausstellung „Die Bibel – Buch der Juden, Buch der Christen“ sind sie Teil des Umgangs mit der antisemitischen Darstellung am Gebäude, erklärt Pfarrer Kohtz. Es geht auch um die judenfeindliche Tradition der Kirche und um den Umgang mit fremden Kulturen in der heutigen Zeit. Der Schwerpunkt: „Wie sehen Weltreligionen das Miteinander?“

Trotz hunderter Jahre, in denen Calbes „Judensau“ keine große Beachtung zugekommen war, will Kohtz die Figur kommentieren, vielleicht mit einer Tafel, innen oder außen vor dem Gotteshaus. Genaueres ist noch nicht geplant. Fest steht nur: „Wir wollen es nicht wegmachen. Geschichte kann man nicht ausradieren. Wir wollen es aber auch nicht einfach so stehen lassen.“

Dem langjährigen Magdeburger Domprediger Giselher Quast ist die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus der Kirche ein wichtiges Anliegen. Der Schwerpunkt in Sachsen-Anhalts größtem Kirchenbau liegt aber nicht bei der Beschäftigung mit der auch dort vorhandenen „Judensau“, sondern mit zwei Figuren am Paradiesportal auf der Nordseite des Doms. Hier stehen sich Synagoga und Ekklesia in Form zweier Frauenfiguren gegenüber. Synagoga ist mit hängendem Kopf und verbundenen Augen dargestellt. Zudem gleiten ihr die Tafeln mit den zehn Geboten langsam aus der Hand. Ihr gegenüber steht die christliche Ekklesia als triumphale Figur mit erhobenem Haupt, auf dem sie eine Krone trägt.

Die beiden Figuren sind Teil des jüdisch-christlichen Gedenkweges durch den Dom. Der Anstoß zur Beschäftigung mit der antisemitischen Darstellung kam, ähnlich wie in Calbe, von außen. „Noch zu DDR-Zeiten erhielten wir einen Brief aus dem Westen, etwas zu unternehmen“, erzählt Quast. Der Absender habe damals eine Graffiti-Aktion angedroht. Giselher Quast, seit 1979 Domprediger, ordnete die lange unbeachteten Figuren auf besondere Art ein. Der Ekklesia gab er eine Augenbinde, als Zeichen der Blindheit vor der eigenen antisemitischen Geschichte. Die Synagoga trug bald einen gelben Stern, der die Verbindung zwischen dem christlichen Antisemitismus und dem Völkermord an den Juden zeigen soll. „Einige Besucher haben eine Schändung der Figuren gemeldet“, erzählt Quast.

Heute sind die Figuren umfangreich kommentiert: „Verschmähte Schwester Synagoge, vergib unsere todbringende Blindheit, ohne Ende gilt Gottes Verheißung dir wie uns“, steht auf einer Bodenplatte an der Paradiespforte. „Die meisten haben positiv reagiert, wenige sehen das als Nestbeschmutzung“, so der Domprediger.

„Der Umgang mit der Geschichte ist wichtiger als deren Negation“, sagt Quast. Er ist gegen das Entfernen oder Verstecken der Bildnisse. „Das ist meistens der erste ideologische Überschwung nach einer politischen Wende.“ Quast erinnert an die vorschnelle Vernichtung von Lenindenkmälern nach der Wende.

Tatsächlich versteckt ist die „Judensau“ des Magdeburger Doms. Auf der Südseite der Ernstkapelle ist sie in einigen Metern Höhe in ein Kapitell eingearbeitet. Ein verschlossenes Gitter trennt die Kapelle vom Hauptschiff des Doms, das Hauptportal verschließt sie nach außen. Nur in der Ostertnacht und zur Bischofsweihe werden die riesigen Türen des Doms geöffnet. Dennoch ist die Skulptur Teil der Führungen durch das Gotteshaus, erklärt Quast.

Die Magdeburger „Judensau“ ist noch drastischer als die in Calbe. Zu sehen ist eine Sau, an deren Zitzen ein Mensch saugt, sehr nah am Hinterteil des Tieres steht eine weitere Person. Beide tragen den spitz zulaufenden Judenhut, ein zeitweise den Juden vorgeschriebenes stigmatisierendes Kleidungsstück. Als Steigerung der Erniedrigung tummeln sich zwei Hunde zwischen den Beinen der Sau. Bald, wenn die gerade stattfindenden Bauarbeiten an der Westseite des Doms vorüber sind, soll auch die Magdeburger „Judensau“ kommentiert werden, sagt Quast.

Vorbild ist ihm der Umgang mit der Wittenberger „Judensau“. „Ein sehr intellektueller Text“ kommentiere die Darstellung an der Stadtkirche, so Quast. Die Botschaft: Gott starb in den sechs Millionen ermordeten Juden. Die exzellent erhaltene Figur hat ein ähnliches Motiv wie die Magdeburger. Ergänzt ist sie durch die Wörter „Rabini – Schem HaMphoras“. Der hebräische Begriff steht für den unaussprechlichen Namen Gottes, der in der Bibel nur als hebräische Konsonantenfolge JHWH dargestellt wird. „Eine ganz besondere Erniedrigung“ nennt Quast den Zusammenhang zwischen Gott und dem Schwein.

Ein ähnlich drastisches Motiv wie die „Judensau“ in Magdeburg und Wittenberg zeigt die Darstellung in Zerbst. Sie findet sich an der Ruine der Nicolaikirche. „Es ist ein schreckliches Zeugnis der Geschichte“, sagt Pfarrer Thomas Meyer. Trotzdem habe die Darstellung „derzeit keine Bedeutung“, mittelfristig sei keine Kommentierung geplant. Auch hätte noch niemand in Zerbst das Thema angesprochen. „Nur alle paar Jahre kommt von außen der Hinweis, wir müssten etwas tun“, sagt Meyer.

Der Hinweisgeber ist sehr oft Wolfram Kastner aus München. Der Aktionskünstler macht seit Jahrzehnten christliche Gemeinden auf ihre antisemitischen Figuren aufmerksam. Aus Zerbst wurde ihm einst geantwortet, dass man fürchtet, mit einer Kommentierung der „Judensau“ Neonazis anzulocken. „Diese Begründung finde ich besonders perfide“, sagt Kastner. Er hält der Kirche vor, sich vor der Auseinandersetzung zu drücken. Einen Vorschlag für einen Text hat der Künstler bereits vorbereitet. Darin erklärt er den geschichtlichen Hintergrund der „Judensau“ und gibt im Namen der Kirche ein Schuldbekenntnis am Holocaust ab.

Auch Kastner ist gegen die Entfernung der Figuren. Er schlägt aber vor, die Darstellungen in die Innenräume der Kirchen zu holen und sich dort mit ihnen zu beschäftigen. „Sie sind noch immer ein Propagandainstrument.“