1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Es kann jeden treffen

Ausgrenzungsangst Es kann jeden treffen

Teil fünf der Volksstimme-Serie Angst: Als Obdachlose erfährt Volontärin Anne Toss, wie es ist, am Rand der Gesellschaft zu stehen.

Von Anne Toss 11.06.2016, 01:01

Magdeburg l Hellbraune Lederschuhe und schwarze Lackschnürer ziehen ebenso an mir vorbei wie abgetragene Sneaker, flache Ballerinas und Stiefel mit Pfennigabsatz. Die Schuhe sind Fixpunkt und Ablenkung zugleich, ich verfolge sie, bis sie aus meiner Sicht verschwinden. Dann suche ich mir ein neues Paar.

Seit ich mich als Obdachlose auf einen Pappkarton an den Breiten Weg gesetzt habe, hat sich meine Perspektive verändert. Auf Augenhöhe sind jetzt die Beine der Passanten, und da es mir unangenehm ist, in die Augen der Menschen zu schauen, studiere ich ihre Schuhe. Da tauchen sie auf einmal vor mir auf, rote Kinderschuhe. Ein kleines Mädchen, vielleicht vier Jahre alt, streckt mir einen Fünfeuroschein entgegen. Ihre Mutter steht etwas abseits, lächelt mir zu und nickt. Flugs lässt das Kind den Geldschein in meinen Pappbecher fallen. Bevor ich etwas sagen kann, verschwinden beide wieder im Gedränge.

Geld*, aber auch Essen von Fremden anzunehmen, ist eine der schlimmsten Erfahrungen, die ich machen muss. Bei jedem einzelnen Passanten, der mir etwas gibt, verspüre ich den innerlichen Drang, aufzuspringen und das Gespendete zurückzugeben. Ich schäme mich. Erst hatte ich nur ein ungutes, flaues Gefühl im Magen, jetzt will ich eigentlich nur noch weg. Vor dem Magdeburger Allee-Center komme ich mir vor wie auf einem Präsentierteller – ich wünsche mich zurück in das Parkhaus, wo ich am Morgen mein Auto abgestellt habe. Dort war es schön dunkel, ich konnte zwischen all den Autos einfach verschwinden.

Und wenn wir ehrlich sind, kennen wir doch alle Situationen, in denen wir froh waren, in einer Gruppe verschwinden zu können, nicht aufzufallen. Ich jedenfalls kenne einige. Zum Beispiel im Sportunterricht, wenn Mannschaften gewählt wurden – die Unbeliebten und Unsportlichen blieben immer über, mussten vom Lehrer zugeteilt werden. Oder später, wenn Aussehen und Markenklamotten die Türen zu den coolen Cliquen öffneten – oder eben nicht. Ich wollte nie übrig bleiben, davor hatte ich Angst. Denn wer dazugehört, ist nicht allein.

„Sie wissen, dass Sie hier nicht sitzen müssen?“, reißt mich eine Frau, Mitte 40, aus den Gedanken. „Verstehen Sie mich, sprechen Sie deutsch?“ Ich nicke. „Gehen Sie da rüber zum Amt“, die Frau deutet mit ihrer Hand grob in die Richtung, wo das Amt sein soll, „wenn Sie sich dort melden, bekommen Sie eine Wohnung und auch Unterstützung.“ Ich nicke wieder. Dann stellt sie eine Frage, die ich an diesem kalten Aprilmorgen noch öfter höre: „Was ist denn passiert?“

Im Vorfeld hatte ich mir bereits eine Geschichte zurechtgelegt. Dass ich ursprünglich aus Baden-Württemberg bin und Kumpels in Magdeburg besuche, entspricht zum Großteil noch der Realität. Dass ich erst meinen Job, dann meine Wohnung und schlussendlich auch den Kontakt zu meiner Familie verloren habe, ist zwar gelogen – aber es wäre möglich.

Vielleicht ist es genau das, was meine Angst ausmacht. Dass die Möglichkeit besteht, den Anschluss zu den Mitmenschen zu verlieren. Und zwar für jeden von uns. Als ich vor einiger Zeit einen jungen Obdachlosen in Stuttgart für eine Reportage begleitete, wurde mir zum ersten Mal so richtig bewusst, dass niemand davor gefeit ist, durch das soziale Raster zu fallen.

Denn eigentlich hatten wir vieles gemeinsam: ein stabiles Elternhaus, einen Schulabschluss, er eine abgeschlossene Ausbildung, ich ein Studium. Doch als seine Freundin das gemeinsame Kind verlor, warf ihn das total aus der Bahn. Als wir uns trafen, war sein sehnlichster Wunsch, dass alles wieder so wird wie früher. „Ich will mein altes Leben zurück“, sagte er, als ich mich von ihm verabschiedete.

In Deutschland gibt es keine bundesweite amtliche Statistik, die zeigt, wie viele Personen in derselben Situation sind wie er. Für ein Land, das fast alles in Zahlen erfasst, eine überraschende Tatsache. Schätzungen zufolge sind es allerdings keine Einzelfälle: Laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) werden bis 2018 rund 536 000 Menschen wohnungslos sein. Eine Folge verfehlter Wohnungspolitik und unzureichender Armutsbekämpfung, so die BAGW.

In Magdeburg haben im Monat Mai 58 Personen in der Sozialen Wohneinrichtung der Stadt gelebt, teilt Michael Reif, Pressesprecher des Oberbürgermeisters, mit. Zu diesen kommen noch rund 140 Personen hinzu, die die Wohneinrichtung nicht aufsuchen, aber Leistungen vom Jobcenter beziehen, so das Jobcenter Magdeburg. „Eine Rest-Dunkelziffer bleibt trotzdem“, sagt Michael Reif. Denn Menschen, die weder die Einrichtung besuchen noch Leistungen beziehen, tauchen in den Zählungen nicht auf.

Im Laufe des Vormittags merke ich, wie ich anfange, Blickkontakt zu den Passanten zu suchen. Meine anfängliche Zurückhaltung hat sich gelegt, ich habe nichts zu verlieren. Was solls, denke ich mir, ich will wissen, wie sie auf mich reagieren – also muss ich ihnen wohl oder übel auch in die Augen schauen. Obwohl ich nur mein Äußeres verändert und mich auf eine Straße gesetzt habe, merke ich schnell, dass es mit der Zugehörigkeit vorbei ist. Nicht, dass die Gruppe der Passanten einheitlich wäre, im Gegenteil: hier laufen Handwerker neben Büroangestellten, Hipster mit dem Skateboard unterm Arm neben Senioren mit Einkaufstaschen. Aber eine junge, obdachlose Frau gehört da nicht dazu. Ich passe nicht ins Bild.

Ein Grund dafür wird mir des Öfteren im Vorbeigehen zugemurmelt: „Dann geh doch mal arbeiten.“ Niemand weiß, wieso ich in diese Situation geraten bin, verurteilt werde ich trotzdem: Das ist eine von denen, die uns auf der Tasche liegt, die sich vom Staat durchfüttern lässt, weil sie zu faul zum Arbeiten ist – solche oder so ähnliche Gedanken gehen in diesem Moment wohl durch die Köpfe einiger Passanten.

Die Angst vor solchen Situationen, die ich ab und an empfinde, ist nicht wirklich konkret. Zumindest ist es nicht so einfach, sie in ein Wort zu packen, wie zum Beispiel Höhenangst. Da weiß jeder sofort, was gemeint ist. Für mich trifft Angst vor Ausgrenzung wohl am ehesten zu.

Denn ich spüre eine Grenze, die mich von den anderen trennt. Selten geht jemand in die Hocke und begibt sich auf Augenhöhe mit mir, der Mülleimer an der Säule, an der ich sitze, wird gemieden. Man beobachtet mich aus einer sicheren Entfernung.

Je länger ich den manchmal mitleidigen, manchmal abwertenden Blicken ausgesetzt bin, desto mehr merke ich, dass sich meine Angst vor den Reaktionen in Wut verwandelt. Die herablassenden Bemerkungen, die unausgesprochenen Vorwürfe, das alles wühlt mich innerlich auf. Wie kann es sein, dass fremde Menschen mich so schnell in eine Schublade stecken? Dass sie so wenig Verständnis dafür haben, dass hier jemand sitzt, der im Moment eben nicht so sein kann, nicht so sein will, wie es für „normal“ empfunden wird? Und was bitte ist denn schon normal?

Aber mir wird auch bewusst, dass ich mich davon nicht ausnehmen kann. Ich vertraue ebenfalls meinem ersten Eindruck, wenn es darum geht, Menschen einzuordnen. Bevor auch nur ein Wort gewechselt wurde, habe ich bereits eine Vermutung im Kopf, wie das Gegenüber sein könnte.

Und während ich mich über die unfreundlichen Blicke und über mich selbst ärgere, berührt mich die Hilfsbereitschaft vieler Fußgänger umso mehr. „Sie sind doch so ein hübsches, junges Mädchen. Ich versteh das einfach nicht“, sagt eine Frau und reicht mir eine Tüte vom Bäcker. „Hier, falls Sie Hunger haben.“ Ich spüre, wie mir Tränen in die Augen schießen.

*Der gesamte Betrag von rund 30 Euro wurde an Die Brücke Magdeburg, einen freien Träger der Jugendhilfe, gespendet.