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BauprojekteGünstig geschätzt, teuer bezahlt

Überlange Planungszeiten, mangelhafte Kontrolle, schöngefärbte Schätzungen: Verkehrsbauten in Sachsen-Anhalt werden teurer und teurer.

26.06.2017, 23:01

Magdeburg l Magdeburgs Brücken-und Tunnelbaustelle am City-Carré ist das derzeit aufwändigste innerstädtische Verkehrsprojekt Sachsen-Anhalts. Die Bahn AG saniert die veraltete Eisenbahnbrücke; die Stadt muss die darunter liegende Durchfahrt erneuern, weil die alte zu niedrig war. Es entsteht eine Zwei-Etagen-Durchfahrt: Oben rollt künftig die Tram, unten im Tunnel fahren Autos und Laster.

Magdeburger Tunnel (Schätzung: 36 Millionen Euro, Stand: 110 Millionen Euro)

2003 werden die Kosten erstmals geschätzt: 36 bis 37 Millionen Euro. Es dauert bis 2012, ehe die Baugenehmigung vorliegt. Ein Planungsbüro errechnet die aktuellen Kosten: 58 Millionen Euro. Der Tunnel schlägt mit 36 Millionen Euro zu Buche, hinzukommen 22 Millionen Euro für neue Leitungen: Wasser, Abwasser, Gas. Dann klagt der Umweltverband BUND. Die Stadt gewinnt, doch es dauert bis 2014, ehe die Ausschreibungen starten. Es herrscht gerade Hoch-Konjunktur.

Weder Planer noch Behörden hatten das offenbar auf dem Zettel. Für den auf dem Papier stehenden Preis will jedenfalls niemand den Tunnel bauen. Die Angebote variieren zwischen 68 und 90 Millionen Euro - und da sind die Leitungskosten noch nicht mal mit drin. „Diese Dimension war neu für mich“, bekennt Oberbürgermeister Lutz Trümper. „Aber der Markt ist wie er ist.“ Der „Günstigste“ bekommt den Zuschlag: Tunnel- und Leitungskosten summieren sich nun auf 90 Millionen Euro.

Der nächste Schock kommt 2015. Die Seitenwände des Autotunnels sind zu dünn berechnet. Die Entwurfsplaner ermittelten 90 Zentimeter. Bekannt ist: Gegen die Beton-Wände lastet enormer Druck. Denn im Magdeburger Erdreich steckt viel Grundwasser. Nach starken Regenfällen säuft das Areal am Damaschkeplatz immer mal ab. 1978 stand das Wasser hier mannshoch. Anfang 2015 - mittlerweile sind neue Planungsbüros am Werk - schlagen deren Statiker Alarm: 90 Zentimeter reichen nicht, es müssen 120 Zentimeter dicke Wände sein. Andernfalls können sich feinste Risse bilden. Und durch die sickert dann Grundwasser. Das städtische Baudezernat sieht sich zu einer eigenen statischen Tiefenprüfung nicht in der Lage: Die Stadt verlässt sich da ganz auf Externe.

Mehr Material, zeitfressende Umplanungen, mehr Arbeitsschichten, um die Zeitverluste auszugleichen: Die Kosten klettern auf 110 Millionen Euro. Etwa. Zahlt der alte Planer? Der streitet Fehler ab. Ein Gutachten wird beauftragt: Statiker der Uni Dresden bestätigen: Die dickeren Wände müssen sein. Nun geht die Rechnerei weiter: Was sind fehlerbedingte Mehrkosten - und was sind „Sowieso-Kosten“, also Ausgaben, die bei korrekter Planung ohnehin angefallen wären? Zahlt es die Versicherung? Zahlt es das erste Planungskonsortium? Hatte die Stadt die Planungsbüros ausreichend über die Bodenverhältnisse informiert? Wahrscheinlich werden Richter entscheiden. Erst mal gehen Stadt und Bahn in Vorleistung, damit es weitergeht und das Bauwerk im Herbst 2019 fertig wird.

Der Bau ist überbordend komplex mit vielen Bauherren, Firmen, Bauphasen und Ausschreibungsrunden. Ein Generalauftragnehmer? Fehlanzeige. „Sobald Fördermittel fließen, müssen wir mehrere, kleinere Lose ausschreiben“, sagt Oberbürgermeister Trümper. So will es das Baurecht. Geht es auch anders? Beim Schulbau hat die Stadt auf Fördergeld verzichtet und vergibt Projekte an einen General: Der ist vom ersten Planstrich bis zur letzten Kelle Mörtel für alles zuständig. Ein Ansprechpartner, ein Preis, ein Termin. „Wir haben schon 20 Schulen ausgebaut und saniert - es ist noch nicht eine einzige teurer geworden.“

A 14 Nord (Schätzung: 775 Millionen Euro, Stand: 1300 Millionen Euro)

Freundliche Schätzpreise erleichtern die Mehrheitsfindung in der Politik. Als über den Weiterbau der A 14 von Magdeburg nach Schwerin Anfang der 2000er Jahre gestritten wird, beziffert der Bund die Kosten für die 150 Kilometer lange Piste auf 775 Millionen Euro. Fünf Millionen Euro pro Kilometer: Das klingt doch gut. Genauso teuer war das im Jahr 2000 vollendete A-14-Autobahnstück von Halle nach Magdeburg auch gewesen. Der Haken: Das war ein Preis aus den 90er Jahren. Dabei wissen Bauexperten: Kostenschätzungen sollten nie älter als zwei Jahre sein. Die Planung für die A 14 Nord beginnt aber erst 2004. Und schon damals war klar: Von der Planung bis zur heißen Bauphase würden weitere Jahre ins Land gehen. Wenn man nur eine ganz normale jährliche Preissteigerung von zwei Prozent ansetzt (Löhne, Baustoffe, Energie), ist man schnell über der Milliarden-Schwelle.

Hinzu kommen deutlich höhere Naturschutzauflagen: Allein in Sachsen-Anhalt sind 67 Grünbrücken und Durchlässe geplant, damit Tiere die Autobahn gefahrlos queren können. Aktueller Gesamtpreis für die gesamte Piste: 1,3 Milliarden Euro - fast doppelt so viel wie erst geschätzt.

A 143 (Schätzung: 80 Millionen Euro, Stand: 245 Millionen Euro)

Das nur gut 12 Kilometer lange Autobahnstück wird herbeigesehnt, da es die Lücke zwischen A 14 und A 38 bei Halle schließt. Das Problem: Die Straße quert einen kleinen Porphyrkuppen-Höhenzug, und der genießt höchsten europäischen Schutz.

Das Bundesverwaltungsgericht verlangt neue Pläne. Die liegen nun vor: Die Autobahn quert den Höhenzug künftig in einem 300 Meter langen Tunnel. Brücken werden wegen Hochwasser- und Naturschutzes sehr lang: Über die 80 Meter breite Saale spannt sich künftig eine 1000 Meter lange Brücke.

Die A 143 wurde in den 90er Jahren als Verkehrsprojekt Deutsche Einheit konzipiert. Fertig wird sie 2021 - wenn es gut läuft. Wegen der langen Planungsdauer und der hohen Auflagen verdreifachen sich die Kosten auf 245 Millionen Euro. Mit einem Aufwand von 19 Millionen Euro je Kilometer wird die A 143 die teuerste Autobahn Sachsen-Anhalts.

B 6 Köthen – Dessau (Geplant: 50 Millionen Euro, Erwartet: 60 Millionen Euro)

Auf der dreispurigen Schnellstraße kommen Autofahrer künftig mal flott von der A 14 (Bernburg) zur A 9 (Dessau). Der Bau der letzten Etappe ab Köthen hatte 2016 schon begonnen, als die Ingenieure unerwarteten Besuch bekamen: Kröten. Tausende Kröten. Gut 25 000 Tiere durchwandern genau jenes Areal, durch das die Straße soll.

Hatten die Umweltplaner die Tiere nicht bemerkt? Oder hatten die Lurche plötzlich ihre Route geändert? Die Sache bleibt mysteriös, das Problem muss aber gelöst werden. Tausende Kröten zu überfahren oder aber in Eimern über die Straße zu tragen, kam nicht in Frage. Nun wird die Straße auf fünf Kilometern Länge höher gesetzt und die Kröten bekommen an die 100 kleine Durchlässe. Wegen der neuen Trassenlage müssen auch Brücken verändert werden. Mehrkosten: Etwa 10 Millionen Euro.

Und das Resümee? Die Bau-Unternehmen fordern mehr Sorgfalt von den öffentlichen Auftraggebern – sowohl in technischer wie in finanzieller Hinsicht. „Schöngerechnete Kostenschätzungen können zwar kurzfristig die politische und öffentliche Akzeptanz erhöhen, rächen sich aber später“, meint Bauindustrie-Präsident Wolfgang Finck.

Der in Sachsen-Anhalt und Sachsen tätige Verband hat die Fallstricke der Auftragsvergabe und die Erfahrungen der Baufirmen jetzt in seinem „Schwarzbuch Bauwirtschaft: Fallstricke bei der öffentlichen Auftragsvergabe“ aufgelistet.