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Behinderung im Alter Als Vorreiter mitten im Leben

Fünf geistig behinderte Männer, die als Kinder nach Halberstadt kamen, sind mit einer geistigen Behinderung alt geworden.

Von Sabine Scholz 27.07.2017, 01:01

Halberstadt l Die Urkunde musste Verwaltungsdirektor Holger Thiele noch mal neu schreiben. Er hatte sich im Datum geirrt, wie ihm Wolfgang Höfer sagte. Am 2. Mai 1957 kam der damals vierjährige Wolfgang nach Halberstadt ins Hephata-Heim. Wolfgang Höfer besitzt ein phänomenales Zahlen- und Namensgedächtnis, er lässt keine Ungenauigkeit zu. Und er erinnert sich noch gut an die ersten Jahre in Halberstadt. Höfer war gemeinsam mit Eberhard Kleinwächter am 2. Mai 1957 in den Vorharz gekommen. Kleinwächter war schon zehn Jahre alt und hatte seine Kinderjahre wie Wolfgang Höfer bis dahin in Haldensleben verbracht, in der Psychiatrie.

„Es waren andere Zeiten. Mit diesen Jungs, die eine geistige Behinderung hatten, wusste man noch nicht so umzugehen wie heute“, erinnert sich Ernst Krahl. Der heute 80-jährige Pfarrer hat Wolfgang und die anderen „Jungs“ als Jugendliche kennengelernt, als er 1968 Vorstand des Diakonissen-Mutterhauses Cecilienstift in Halberstadt wurde, zu dem das Hephata-Heim gehört.

Da wohnten bereits 60 Jungen mit geistigen Behinderungen in dem Heim, das 1927 auf Bitten der Lehrer der Provinzial-Taubstummenanstalt in Halberstadt als Internat für gehörlose Jungen errichtet worden war. Doch 1957 musste die kirchliche Einrichtung diese Kinder ziehen lassen. Die Gehörlosenschule war zum Internat umgestaltet worden. „Alles, was mit Bildung zu tun hatte, wollte die DDR-Führung unter staatlicher Aufsicht wissen“, sagt Krahl.

Von einem Tag auf den anderen waren 60 Plätze im Hephata-Heim frei. Zugleich quoll die psychiatrische Klinik in Haldensleben über. Und da die Staatsführung nichts dagegen hatte, „Bildungsunfähige“ der Kirche zu überlassen, zogen ab Januar 1957 insgesamt 60, wie man damals sagte, hirngeschädigte Kinder nach Halberstadt. Den Heimnamen Hephata behielt man bei. Hephata heißt „Tue dich auf!“ und stammt aus dem Markusevangelium.

Zu den ersten Kindern, die Anfang 1957 aus Haldensleben kamen, gehörten der 1951 in Naumburg geborene Gerd Böttcher, der 1952 in Herzberg an der Elster geborene Erwin Richter, der 1952 in Markranstädt zur Welt gekommene Wolfgang Höfer, der 1951 in Merseburg geborene Dieter Schrepper und Eberhardt Kleinwächter. Der erblickte im Oktober 1946 in Zerbst das Licht der Welt. Sie alle sind Nachkriegskinder und die erste Generation, die mit einer geistigen Behinderung das Rentenalter erreicht. Ältere gibt es kaum, die meisten wurden ermordet.

Menschen mit geistiger Behinderung fielen der Rassenpolitik der Nationalsozialisten zum Opfer. „Euthanasie“ hieß die ab 1939 massenhaft betriebene gezielte Tötung behinderter Kinder und Erwachsener euphemistisch.

In Sachsen-Anhalt erinnert die Gedenkstätte in Bernburg an dieses Kapitel deutscher Geschichte, zu der auch die Zwangssterilisation von vermeintlich genetisch Kranken gehörte. Bereits 1933 hatten die Nationalsozialisten das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen, das die Zwangssterilisation von Menschen erlaubte, die manisch-depressiv waren, an Schizophrenie oder Chorea Huntington litten, die taub oder blind geboren worden waren oder schwer alkoholkrank.

Zwischen 1933 und 1945 sind mehr als 350.000 Menschen zwangssterilisiert und über 200.000 durch Gas, Medikamente oder Entzug der Nahrung ermordet worden. Sie kamen aus psychiatrischen Einrichtungen, Fürsorgeeinrichtungen, Altenheimen und Lazaretten. Ärzte und Angehörige des Pflegepersonals töteten die ihnen anvertrauten Patienten, unterstützt von Verwaltungspersonal, gedeckt von Juristen. Die Bezeichnung des Mordes als „Euthanasie“ (griech. guter oder leichter Tod) sollte einen Massenmord als mitleidsvolle Erlösung rechtfertigen.

In den Jahren 1940 und 1941 waren sechs Gasmordanstalten eingerichtet worden, da­runter auch in Bernburg/Saale auf dem Gelände der damaligen Landes-Heil- und Pflegeanstalt. Mehr als 14.000 Menschen aus Heil- und Pflegeanstalten sowie später auch aus Konzentrationslagern fanden hier einen gewaltsamen Tod.

Die baulichen Reste der Vernichtungsanlage sind seit 1989 Bestandteil einer Gedenkstätte, die an die historischen Ereignisse erinnert.

Die fünf Männer, die nun ihr Rentnerdasein genießen, haben ein erfülltes Leben gelebt, mit vielen Höhen und Tiefen. In den ersten Jahren wurden sie noch ans Bett gefesselt, damit sie nachts nicht durch die Schlafsäle wandelten. Schläge gab es auch. Dieter Schrepper sagt heute lapidar zu diesem Kapitel in seiner Biografie: „Die sind alle unter der Erde, die uns gedroschen haben.“ Schrepper ist eine Frohnatur, hat im Alter das Mundharmonikaspiel begonnen und vor einigen Jahren im Wohnheim im Park seine große Liebe kennengelernt. Im Hephata-Heim wohnen Dieter Schrepper und die anderen vier schon lange nicht mehr. Heute ist der Backsteinbau das Zuhause von mehrfachbehinderten Menschen, die im Tagesförderzentrum des Cecilienstiftes Förderung erfahren.

Fast alle, die „zur ersten Generation“ zählen, haben als Erwachsene gearbeitet – in Firmen der Stadt oder in den Werkstätten. Wobei wie im Fall von Achim Heymann ein Betriebsdirektor eines volkseigenen Betriebes in Halberstadt bei Pfarrer Ernst Krahl vorstellig wurde und diesen bat, mit dem jungen Mann zu reden. „Er verdarb die Norm, weil er morgens kam und mit Tempo loslegte. Die Arbeit machte ihm einfach so großen Spaß“, erinnert sich Pfarrer Krahl lachend. Noch heute kann Achim Heymann, inzwischen im Ruhestand, die Hände nicht stillhalten, strickt unermüdlich Mützen und fertigt Ausmalbögen für Kleinkinder an, die bei Festen des Cecilienstiftes gerne genutzt werden.

Mit der Wende änderten sich mal wieder Finanzierungs- und Gesetzesgrundlagen. Wer in einer Werkstatt arbeitete, musste woanders untergebracht sein als jene, die nicht arbeitsfähig sind. Deshalb baute das Cecilienstift das 1996 eingeweihte Wohnheim im Park mit 64 Heimplätzen. Zwei Jahre später kamen die ersten Trainingswohngruppen für acht taubblinde und für sieben Erwachsene mit geistiger Behinderung in sanierten Altbauten hinzu. Inzwischen gibt es intensiv betreutes Einzelwohnen, ambulant betreute Wohngruppen und Heimplätze gleichberechtigt nebeneinander, sie bieten je nach Selbständigkeitsgrad den Behinderten passende Wohnmöglichkeiten.

Auch wenn sie nicht mehr alle unter einem Dach wohnen, begegnen sich die fünf Ersten aus dem Hephata fast täglich im Tagesförderzentrum, denn dort gibt es seit zwei Jahren eine Seniorengruppe, die sich im Café Quasselkuchen trifft, um zu backen und zu klönen. Wer mag, kann in dem „Quassel-Holzschuppen“ genannten Werkstattraum sägen, schleifen, hämmern. Oder er töpfert und bemalt im Nebenraum die Töpferwaren, die andere im Tageszentrum angefertigt haben. Alles freiwillig, schließlich sind sie im Ruhestand.

Solche Angebote sind Neuland für Einrichtungen wie das Cecilienstift. „Aber wir wachsen mit den Aufgaben“, sagt Kristin Auerbach, die das Tagesförderzentrum leitet. Vorstand Holger Thiele kann das nur bestätigen. „Es hat kaum jemand Erfahrung mit Senioren mit geistigen Behinderungen, wir lernen dazu, entwickeln neue Projekte.“ Auch wie solche Angebote finanziert werden können, ist immer wieder ein Thema für Rententräger, Sozialkassen und Einrichtungen der Behindertenhilfe. Landesweit.

Die Senioren nehmen das Angebot gerne wahr, sie wollten und sollten nach Eintritt ins Rentenalter nicht sich selbst überlassen sein. Wolfgang Höfer genießt den Austausch mit den anderen, ist aber auch gern wieder in seiner eigenen Wohnung. Hier kann er seinen Fernseher einschalten, wann er will, oder auch Radio hören, wann er mag und was er mag. Das war in seinen Jugendtagen anders. „Es war alles weggeschlossen“, erinnert er sich, das Radio wurde nur zu festen Terminen aus dem Schrank geholt. „Am liebsten um halb eins mittags“, sagt Dieter Schrepper, weil da beim Soldatensender die schönste Musik gespielt wurde. Als es dann irgendwann einen Fernseher im Hephata-Heim gab, kamen feste Fernsehzeiten dazu.

Wolfgang Höfer liebt Musik und als es leichter war, ein Radio zu kaufen, erwarb er eins. Wenn es die Zeit zulässt, geht er auch jetzt noch gerne mit einem Betreuer aus dem Tageszentrum in die Elektronikgeschäfte der Stadt und lässt sich die Neuheiten auf dem Radio- und Fernsehmarkt erklären.

„Als wir klein waren, war alles streng geregelt“, erinnert sich Wolfgang Höfer. Um 17 Uhr gab es Abendbrot, um 18 Uhr war Bettruhe. Nach und nach gab es mehr Freiheiten, die strengen und frühen Bettzeiten wurden gelockert. Damit verbunden war eine neue Organisation des Dienstes. Da gab es aber zumindest schon keine Schlafsäle mehr, es wurde in kleineren Gruppenräumen geschlafen. Die Gruppen orientierten sich an Familienstrukturen, die Bewohner halfen und unterstützen sich gegenseitig, etwa beim Anziehen und Schuhe binden.

Dieses Miteinander prägt den Umgang der Männer auch im Alter. Sie wissen um die Eigenheiten des anderen. Und sie hängen aneinander. Eindrucksvolles Beispiel dafür ist eine Begegnung, die im vergangenen Jahr stattfand.

Aus Platzmangel im Hephata mussten einige der Jungen 1968 und noch einmal einige 1977 in die diakonische Einrichtung Diest-Hof in Seyda umziehen. Die Sitzung eines Fachausschusses im Tagesförderzentrum Halberstadt brachte durch Zufall erneut Kontakt nach Seyda. Die Halberstädter fuhren nach Seyda, ein Jahr später folgte der Gegenbesuch – alle kannten noch die Namen der anderen, fielen sich um den Hals. Bei einem Gang durch das Hephata-Heim wurden Erinnerungen ausgetauscht. Dass es einen Schweinestall gab und die Kinder beim Füttern halfen, war ebenso Thema wie Erlebnisse beim Aufhängen der Wäsche. Oder der Stolz, dass Wolfgang und Eberhard als „Spannemänner“ im nahegelegenen Konsum einkaufen gehen durften. „Früher hingen keine Bilder an den Wänden, da war es dunkel“, berichtet Dieter Schrepper. Und bunten Badezusatz, so wie heute, gab es auch nicht.

Heute sind nicht nur die Heimräume heller und bunter. Der Schulbesuch ist für Kinder mit geistiger Behinderung genauso selbstverständlich wie der Weg zur Arbeit nach der Schulausbildung. Mancher lernt lesen und schreiben, mancher, sich allein im Alltag zurechtzufinden. Wer Unterstützung braucht, bekommt sie – in Heimen oder Wohngruppen. Während all das erst nach der Wende wirklich zu einer Selbstverständlichkeit wurde, war die gemeinsame Urlaubsfahrt schon zu DDR-Zeiten völlig normal. Nach der Saison, wenn die Ferienobjekte der Betriebe nicht mehr gebraucht wurden, konnten die Heimbewohner verreisen. Ab 1965 war für viele Jahre Jasperode, später Stiege Ziel der Reise, auf die es mit Sack und Pack ging. Vom Teller bis zur Bettwäsche musste alles mitgebracht werden.

Auch das wurde bewältigt, so wie man im Umgang mit den behinderten Kindern professioneller wurde. Mit den Neinstedter Anstalten wurden Weiterbildungen organisiert, zu der Beschäftigung bei Alltagsarbeiten im Heim kamen bald zusätzliche Arbeitsmöglichkeiten. Im alten Gemüsekeller entstand eine kleine Werkstatt, eine Paramentikerin schenkte einen Webstuhl, später kam im Torhaus des Cecilienstiftes eine kleine Töpferwerkstatt hinzu. „Wir waren immer auf der Suche nach Beschäftigungsmöglichkeiten“, erinnert sich Pfarrer Krahl. Da waren die geschützten Werkstätten sehr willkommen.

Von den fünf „Stammhaltern“ des Hephata-Heimes steht nur noch Erwin Richter im Arbeitsprozess, er ist in der Diakonie Werkstätten gGmbH in Halberstadt beschäftigt. Cecilienstift und der Verein Lebenshilfe sind Gesellschafter des Unternehmens, das Arbeitsplätze für mehr als 400 Behinderte bietet. Und die stehen selbstverständlich mitten im Leben.