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Bergwacht Dienst auf dem unterschätzten Gipfel

Im Sommer rettete die Bergwacht im Harz eine verirrte Wanderin nachts im Brockenwald. Es war nicht der erste Fall.

Von Jörn Wegner 06.09.2016, 01:01

Brocken l Wäre nicht der starke Sturm, dieser Sonnabend hätte perfektes Brockenwetter zu bieten. Es ist trocken, und hohe Wolken sorgen für eine klare Sicht. Schon am Vormittag ist die Brockenkuppe gut mit Menschen gefüllt, an den windgeschützten Seiten der Gebäude wird es eng.

Im Gebäude des Brockenmuseums sitzen Rüdiger Bößerdt, Andy Schröder und Till Kauffels in einem Nebenraum. Sie gehören der Wernigeröder Bergwacht an und verrichten an diesem Sonnabend ihren Dienst – ehrenamtlich. Kollege Mario Natzel ist im Außendienst unterwegs und schaut auf Norddeutschlands höchstem Gipfel nach dem Rechten. Der Dienstraum ist spartanisch eingerichtet: Eine altertümliche Sitzecke, ein Doppelstockbett für gelegentliche Übernachtungen, eine Teeküche. In einem Teil des Zimmers gibt es eine Krankenliege.

„Es gibt Tage, da ist der Brocken proppevoll, und man gibt an durstige Wanderer nur mal ein Glas Wasser aus. Und dann gibt‘s Tage, da ist hier oben nichts los, aber es gibt trotzdem keine Ruhe“, sagt Andy Schröder. Der 31-jährige Ingenieur aus Wernigerode ist einer der Bergwächter. Ob es heute noch einen Einsatz geben wird, kann er nicht sagen. Das Jahr 2016 hatte trotzdem schon einiges zu bieten. Mit bislang 40 Einsätzen ist der Jahresschnitt beinahe erfüllt, sagt Kollege Rüdiger Bößerdt.

Während ihrer Arbeit haben die Bergwächter bereits einiges erlebt. Rüdiger Bößerdt ist mit seinen 61 Jahren der Dienstälteste unter den drei Bergwächtern, 40 Jahre ist der Wernigeröder, der in Torfhaus als Hausmeister arbeitet, schon dabei. Leichtsinn, Unterschätzung und falsche Ausrüstung sind die häufigsten Ursachen für Einsätze im Hochharz, erzählt Bößerdt. Der Bergretter berichtet von einer Familie, die sich im Winter am Brockenmassiv verirrt hat.

Vom Scharfenstein sollte es abends über den Königsberger Weg nach Schierke gehen. „Das ist im Sommer machbar, aber nicht im Winter“, sagt Bößerdt. „Ein halber Meter Schnee, und die waren mit zwei Kindern unterwegs, alle mit Jeans und Turnschuhen.“ Nur mit dem Motorschlitten sind die Retter in die Nähe der verirrten Familie gekommen. Ein Dankeschön gab es am Ende nicht, erzählt der Bergwächter. Die Eltern hätten vielmehr deutlich gemacht, dass Bößerdt und seine Kollegen nur ihre Pflicht erfüllt hätten. „So etwas haben wir noch nie erlebt“, sagt Bößerdt.

Sorgen macht den Rettern die zunehmende Verwendung der GPS-Technik. „Man verlässt sich nicht mehr auf Karten. GPS-Geräte zeigen auch Wege, die sehr schwer zugänglich sind“, erklärt Andy Schröder. Oder seit Jahren gesperrt, wie der Schneelochweg. Der verwachsene Weg gilt als besonders attraktiver Brockenaufstieg. Wer aber in dem streng geschützten Nationalpark-Areal erwischt wird, wird von den Rangern zur Kasse gebeten.

Trotzdem, Bößerdt erinnert sich an zwei Wanderer, die er aus Dickicht und Schnee befreien musste. „Die haben sich auch eine Karte runtergeladen“, sagt er. „Und mit einem Mal kam der Notruf rein, im Frühjahr, wo es schön getaut hat. Bei der Wegbeschreibung standen mir schon die Nackenhaare. Ich wusste gleich, wo das ist: In den Schneelöchern.“ Die Frau hatte sich den Fuß gebrochen, das Wasser stand ihr im Schuh. „Ich dachte mir: Sind wir Wasserwacht oder die Bergwacht.“

Wirkliche Einsatzschwerpunkte im Hochharz gibt es nicht, sagt Andy Schröder. Radfahrer gehören allerdings zu den häufigeren Gästen auf der Krankenliege der Bergwacht. Vor allem auf dem Hirtenstieg, dem westlichen und mit Betonplatten ausgelegten Weg zum Brocken, stürzen viele Radler. „Da verhakt sich schnell das Rad in einer Fuge und schon fliegt man über den Lenker“, sagt Schröder. Auf der asphaltierten Brockenstraße trifft es die Rennradfahrer. „Die können da locker ihre 60, 70 Stundenkilometer runterfahren“, sagt Andy Schröder. Wer plötzlich bremsen muss, zieht schnell den Kürzeren.

Verletzungen bei Fußgängern produziert hingegen der Eckerlochstieg. „95 Prozent, die den Eckerlochstieg hochgehen, haben vernünftige Bergstiefel an. Aber es gibt Leute, die kommen mit Sandalen und Sambalatschen hoch. Man kann es keinem verbieten, wir sind nicht weisungsberechtigt“, sagt Rüdiger Bößerdt. Kein Brockenaufstieg ist kürzer als der steile und felsige Eckerlochstieg. Damit lockt er viele Wanderer an.

Auf dem Brocken selbst sind Unfälle selten. Unterschätzt wird der Berg dennoch. „Wir haben hier hochalpines Klima“, sagt Andy Schröder. Oft kämen Besucher mit der Bahn an, den warmen Temperaturen im Tal entsprechend gekleidet. „Die steigen aus dem Zug aus und gehen bei Windstärke 6 gleich wieder rein“, berichtet Schröder.

Ein besonders spektakulärer Einsatz war jüngst die Suche nach einer verirrten Frau aus Göttingen. In Torfhaus hatte sie ihr Auto geparkt und ist mit ihrem kleinen Sohn über den Goetheweg auf den Brocken gewandert. Kurz vor dem Gipfel sind die beiden auf den Brockenrundweg eingebogen. „Sie war der Meinung, dass sie die Runde schon vollendet hat“, berichtet Andy Schröder. Ein Irrtum, denn statt auf dem Goetheweg zurückzugehen, bog die Frau auf den Hirtenstieg und damit in die falsche Richtung ein. Schließlich stieß sie auf einen Wegweiser Richtung Torfhaus, folgte diesem und war bei einbrechender Dunkelheit plötzlich allein auf einem verwachsenen Weg. Mit vereinten Kräften von Bergwacht, Feuerwehr und Polizei wurde die Frau schließlich gefunden.

Ein Grund für den Erfolg war auch, dass die Göttingerin einen typischen Fehler nicht begangen hat: Nach dem Notruf ist sie an Ort und Stelle geblieben. „Die meisten rufen in den Abendstunden an. Dann bekommen sie Panik und versuchen den Hilfskräften entgegenzugehen“, sagt Andy Schröder. In der Folge wird die Person nicht mehr gefunden, womöglich müssen Hubschrauber und weitere Helfer eingesetzt werden. Zur besseren Ortung von Hilfesuchenden hat die Bergwacht erst jüngst Plaketten mit Ortsangaben an vielen Bäumen im Harzwald angebracht.

Bergwacht heißt nicht nur das große Abenteuer und Outdoor-Romantik zu erleben. Seit Jahren leiden die ehrenamtlichen Helfer unter Finanzierungsproblemen. So müssen sie ihre Ausrüstung selbst finanzieren, Hilfe kommt teilweise von Förderverein und Spendern. Die hochwertige Kleidung geht dabei schnell ins Geld. „Die Jacke liegt bei 150 Euro, die Hose bei 100“, sagt Andy Schröder. Für jedes Wetter muss die passende Kleidung her, hinzu kommen Gurte, Seile und andere Spezialausrüstung. „Da ist man schnell bei 3000 Euro“, so der 31-Jährige.

Bei der Finanzierung der Einsätze hat sich in den vergangenen Jahren einiges geändert. Musste einst jeder Einsatz einzeln abgerechnet werden, sieht das Rettungsdienstgesetz des Landes nun eine Pauschale vor. Das hat allerdings auch Nachteile: „Wenn wir einem gestürzten Radfahrer helfen, bekommen wir dieselbe Pauschale wie bei einer Zwei-Tage-Suche“, erklärt Bößerdt. Noch vor Jahren war das anders. Geld gab es dann, wenn der Gerettete am Ende im Krankenwagen saß. Einmal wurde ein Vermisster eine ganze Nacht gesucht. „THW, Feuerwehr, Bergwacht, alles war draußen“, erzählt Bößerdt. Als der Mann gefunden wurde, war er körperlich in Ordnung und konnte direkt nach Hause gehen. Abgerechnet werden konnte die Aktion aber nicht, trotz des gewaltigen Aufwands.

Die Bergwacht findet viel Unterstützung von Privatpersonen, Unternehmern und Gemeinden. So darf die Thalenser Bergwacht ihr Einsatzfahrzeug in der Garage der Feuerwehr parken, ein Wirt gewährt Versammlungsräume, viele spenden.

Bei all den Geldsorgen und Steinen im Weg, was ist die Motivation für das Ehrenamt? „Ich bin jetzt über 40 Jahre dabei. Da kann man nicht sagen, ich höre jetzt auf, weil ich mir selbst etwas kaufen muss“, sagt Rüdiger Bößerdt. Für Till Kauffels, mit 20 Jahren der Jüngste auf dem Brocken, ist die Freude am Wandern der Grund. „Das kann ich hier mit anderen teilen“, sagt der angehende Werkzeugmacher aus Goslar. „Ich denke alle, die bei der Bergwacht sind, sind gern draußen“, sagt Andy Schröder. Und natürlich zähle die Grundeinstellung, helfen zu wollen. Und kleine Nebeneffekte, zum Beispiel das Fahren mit dem Motorschlitten.

Einen kleinen Einsatz gibt es an diesem Sonnabend doch noch: Ein Kleinkind ist auf dem Plateau gestürzt. Unter großem Geschrei versorgen die Bergretter den Jungen mit einem Pflaster für die kleine Platzwunde.