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Beruf Harzer Zwei Goldschürfer und das Blut der Bäume

Ein Biobauer aus dem Jerichower Land versucht, altes Wissen um die Natur zu bewahren. Unter anderem pflegt er die Tradition des Harzens.

Von Bianca Kahl 05.06.2017, 01:00

Parchen l Hören Sie mal!“, sagt Ernst-Adolf Kampe und hebt den Finger. „Heute ist ein ganz besonderer Tag im Wald.“ Wenn ein Windstoß kommt, dann öffnen sich die Zapfen der hohen Kiefern und ihre Samen wehen davon. Überall knackt es leise. Ernst-Adolf Kampe liebt seinen Wald. Eigentlich ist er Biolandwirt und betreibt eine Leinölmühle in Parchen im Jerichower Land. Dort probiert er gern alle möglichen Rezepte aus: Lupinenkaffee, Kürbiskern-Pesto, Rote-Bete-Zucker. Das berüchtigte vegetarische Leinölschmalz nach dem Rezept seiner Großmutter ordneten überzeugte Fleischesser schon mal dem Wildschwein zu.

„Ich bin immer auf der Suche nach neuen Produkten“, sagt er. „Neu“ darf man dabei aber nicht falsch verstehen. Denn eigentlich ist der Bauer eher auf der Suche nach dem Alten, dem Bewährten, das mit der Zeit in Vergessenheit gerät. Wie eine Art Goldschürfer stöbert er in den Schatzkammern der Natur und versucht, altes Wissen zu bewahren. Eine der Fragen, die ihn umtreiben, ist die nach einer gesunden Lebensweise, die sich mit der Umwelt verträgt.

Das Waldstück am Ortsrand, das er so liebt, hat Kampe von seinem alten Vater übernommen. Er träumt davon, die Natur hier einfach machen zu lassen, bis irgendwann wieder ein kleines Stück Urwald entstanden ist. „Schauen Sie“, sagt er und läuft zu einem mächtigen Kiefernbaum, dessen Stamm sich auf Brusthöhe aufspaltet und viele Meter über dem Erdboden über eine waagerechte Querverbindung wieder zusammengewachsen ist. „Wie so etwas geht“, staunt der Landwirt und schüttelt ungläubig den Kopf. Später will er seinen Freund Klaus-Peter Giesel, einen pensionierten Revierförster, nach der Ursache für den zusammengewachsenen Baum fragen.

Der Förster streift in den vergangenen Wochen häufiger durch diesen Wald – auf Kampes Bitte hin. Orange-rötliche Flächen auf einigen Baumstämmen zeugen von seinen Spaziergängen: die sogenannten Lachten. Etwa 20 Kiefern hat der alte Förster „gerötet“, also stellenweise von der Borke befreit. Das ist der erste Schritt beim traditionellen Harzen. Die beiden Männer wollen nämlich Kiefernharz mit der Hand gewinnen. Die Harze der Nadelbäume gehörten jahrhunderte lang zu den wichtigsten Heilmitteln der einfachen Leute. Baumharz ist die klebrige Flüssigkeit, die aus dem Holz austritt, wenn ein Baum verletzt wird. Das Harz gerinnt und hilft so beim Verschließen der Wunde. Es ist wie das Blut der Bäume.

Ernst-Adolf Kampe holt einen kleinen, gelb-bräunlich schimmernden Klumpen aus der Hosentasche. Er sieht aus wie ein Bernstein. „Als Kinder haben wir damit untereinander gehandelt. Das waren kleine Schätze für uns“, erzählt er und lacht. Zu DDR-Zeiten gehörten Baumstämme mit fischgrätartigen Einschnitten zum Alltagsbild. Der Export von Kiefernharz war ein großes Geschäft und brachte ordentlich Devisen. Die Zauberworte lauteten schon seit dem 19. Jahrhundert Pech, Teer und Terpentin – Produkte aus dem Rohstoff Harz, die auf der ganzen Welt benötigt wurden. In den Wäldern der DDR waren deshalb viele Berufsharzer unterwegs und ein Mann war für etwa 5000 Bäume verantwortlich.

Klaus-Peter Giesel, der alte Förster, war einer dieser Männer. Mit etwa 18 Jahren hatte er als Harzer angefangen und ist bald zum Brigadeleiter aufgestiegen. Etwa zehn Jahre später gab er die harte Arbeit aauf und bekam nach einem Studium sein eigenes Forstrevier. Heute ist der Beruf des Harzers so gut wie ausgestorben. Zwar werden Terpentinöl und Kolophonium, die Hauptbestandteile des Harzes, weiterhin benötigt – von Farben und Lacken über Gelbtafeln zur Schädlingsbekämpfung bis hin zu medizinischen Produkten. Doch das Harz kommt inzwischen aus der Industrie: Es fällt als Nebenprodukt in Zellstoffwerken an.

Ernst-Adolf Kampe und Klaus-Peter Giesel kennen sich schon viele Jahre. Irgendwann ist der Bauer auf seinen Freund zugegangen und hat ihm vorgeschlagen, es noch mal mit dem traditionellen Harzen zu versuchen. Einige Wochen nach unserem ersten Waldspaziergang treffen wir den alten Förster in Kampes Leinölmühle. Die zwei wollen heute noch in den Wald. Es ist Mai und Zeit für den nächsten Schritt: das Reißen, also das Ziehen der Rillen, aus denen Harz austritt. Doch die beiden Männer lassen es ruhig angehen und trinken erst einen Lupinen-Kaffee zusammen.

Dann legt Kampe endlich ein Metallgestell auf den Tisch. Es soll gleich in den Baumstamm eingeschlagen werden und wurde extra von einem Handwerker im Dorf angefertigt: genau passend für einen Tetrapak. Eine leere Packung Apfelsaft hält Kampe schon in der Hand. Die soll dann das Baumharz auffangen. Früher wurden dafür Glastöpfe genutzt, doch die beiden Männer müssen erst mal ein bisschen improvisieren. Bestimmt 45 Jahre ist es her, dass Giesel zuletzt geharzt hat. „Von allein wäre ich sicher nicht auf die Idee gekommen, das wieder zu machen. Ich hatte ja kein Werkzeug mehr“, erzählt er.

Dann fährt Kampe mit seinem klapprigen Kleinbus in den Wald und muss aufpassen, dass er nicht einen Buntspecht überfährt. Zwei Feldhasen machen sich über den Lupinenacker davon. Der alte Förster kommt aus Prinzip auf dem Fahrrad hinterher. Giesel hat sich eine lange weiße Schürze umgebunden und packt das wiederorganisierte Werkzeug aus. Wenn es nach Kampe geht, kann man ihn so jetzt jeden Montag in Parchen antreffen und ihm Löcher in den Bauch fragen, während er Rillen in die Bäume reißt.

„Man muss jeden Baum erst mal wiederfinden“, sagt der Harzer und schreitet in großen Schritten durch das hohe Gras. Um ihn herum wilde Brombeeren, Brennnesseln und Knoblauchrauke. Früher hat er mit der Zeit einen immer gleichen Laufweg entwickelt und hier und da etwas weggehackt, erinnert er sich. Dabei sind langsam kleine Trampelpfade im Wald entstanden. Wenn ein Glaseimer mit Baumharz geleert war, hängte man ihn verkehrt herum über den Metallhaken. Dann wusste man gleich, dieser Baum ist schon dran gewesen. Bis spät in den Abend war Giesel immer unterwegs.

Die beiden Männer kommen zu einer geröteten Kiefer. „Die ist garantiert über hundert Jahre alt“, schätzt der Harzer anhand des Baumstammes. In seiner Jugend galt die Regel, dass die Bäume mindestens 80 Jahre alt sein sollten. Wenn man den Stamm von der Borke befreite, musste ein „Lebensstreifen“ verschont bleiben. Dort durfte nicht geharzt werden und der Baum wuchs an dieser Stelle normal weiter. Das hatte zur Folge, dass die unverletzten Flächen des Stammes die Lachte mit der Zeit wieder überwucherten. Doch nach vier bis fünf Jahren Harzen wurden die Bäume in der Regel ohnehin gefällt. Weil das geharzte Stück mit seinen Rillen nicht mehr für die Herstellung von Brettern geeignet war, nutzte man es häufig für Buhnen in der Ostsee.

Giesel zieht die senkrechte Tropfrinne ins Holz, schlägt mit einem Hammer das Metallgestell ein und hängt den leeren Tetrapak hinein. Dann reißt er links und rechts von der Rinne zwei schräg nach unten verlaufende Rillen. Es dauert nicht lange und das stark duftende Harz rinnt wie Honig die Rillen entlang in den Getränkekarton. Bei warmem Wetter wird es jetzt ein paar Stunden laufen.

„Wenn der Karton halb voll ist, dann werfe ich da eine Biene rein, lasse ihn ganz voll laufen, hart werden und verkaufe das Harz für viel Geld als Bernstein“, scherzt Ernst-Adolf Kampe. Bis etwa Anfang Oktober wird jetzt jede Woche eine weitere Zeile an Rissen entstehen. Dann geht es in die winterliche Ruhephase, die Säfte der Bäume ziehen sich zurück, es blutet nicht mehr.

Doch mal im Ernst: Was will der Bauer mit dem vielen Harz anfangen? „Das weiß ich auch noch nicht so genau“, sagt er. In erster Linie gehe es ja darum, das Wissen um diesen Rohstoff und seine traditionelle Gewinnung zu bewahren. Mit Leinöl werde er das Harz mal mischen, um eine Einreibung auszuprobieren. Diese sogenannte „Pechsalbe“, die aus Harz, Olivenöl, Bienenwachs und eventuell den Blüten von Ringelblumen und Schafgarbe hergestellt wird, dient der Wundheilung und ist gut gegen Husten. Kampe will zudem selbst Gelbtafeln herstellen. Einfach ein bisschen rumprobieren. „Der Winter wird lang“, sagt er dazu nur.