1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Wallischs Weg in die Freiheit

Boxsport Wallischs Weg in die Freiheit

Auf Michael Wallisch passt das Klischee des schweren Jungen. Doch der Magdeburger hat sich rausgeboxt - aus dem Knast ins Leben.

Von Janette Beck 08.01.2016, 00:01

Magdeburg l Oh ja! Box-Europameister Michael Wallisch ist nicht nur im silbergrauen Sakko, das er schon mal zu besonderen Anlässen wie einer Pressekonferenz trägt, eine Erscheinung. Blondes, etwas längeres Haar, gutaussehend, breites Kreuz, fast zwei Meter groß, athletisch. Auf dem ersten Blick wirkt der in München geborene Box-Profi, der am Sonnabend in Berlin erstmals seinen EM-Gürtel verteidigt, zurückhaltend, schüchtern, ja vielleicht auch ein wenig misstrauisch.

Dass er dennoch nicht den Traum aller Schwiegermütter verkörpert, sondern angesichts seiner Vita eher das ganze Gegenteil, den Alptraum, deutet sich gleich nach Ablegen des Sakkos an: Tattoos spannen sich über den rechten Bizeps. Den Unterarm zieren unter anderem rote, hart und eckig wirkende Großbuchstaben. Sie ergeben das Wort „Freiheit“. Das wohl höchste Gut des Menschen – eingebrannt auf der Haut. Das martialische Spiegelbild einer bewegenden wie schockierenden Geschichte eines 30-jährigen Mannes und Boxers, der den Großteil seines Lebens das Thema Faustrecht falsch interpretiert hat, dafür mit Freiheitsentzug bestraft wurde und geläutert von der schiefen Bahn über den Boxring ins Leben zurückgefunden hat.

Der Lebensweg, der geradewegs in den Knast führte, schien vorprogrammiert. „Meine leibliche Mutter war heroinabhängig, litt unter Drogenpsychosen. Sie gab mich zur Adoption frei“, beginnt Michael Wallisch seine traurige Geschichte ganz leise zu erzählen. Anfangs lief es bei den neuen Eltern und deren zwei Kinder ganz gut, doch als der Adoptivvater starb, geriet das Leben des damals Sechsjährigen aus den Fugen. Die Adoptivmutter begann zu trinken, war überfordert und reagierte den Frust an ihrem Adoptivkind ab. „Ich rannte immer öfter weg, lebte quasi auf der Straße, geriet an die falschen Leute und begann Blödsinn zu machen, klaute, rauchte, zündelte.“

Das Jugendamt übernahm die Obhut, aus dem Kind Michael Wallisch wurde ein Heimkind. Das war quasi der Anfang vom vorläufigen, bitteren Ende. „Insgesamt 16 verschiedene Heime habe ich durchlaufen. Aber nirgendwo kam ich zurecht, und keiner kam mit mir zurecht.“ Gewalt und Drogen blieben nicht aus, das machte den heranwachsenden Teenager zur tickenden Zeitbombe: „Ich habe mir nichts gefallen und von niemanden etwas sagen lassen. Konflikte löste ich notfalls so, wie ich es gelernt hatte: mit Gewalt. Ich war ein Produkt meiner Umgebung und meiner Erziehung.“

Mit 13 kam er in ein geschlossenes Jugendheim bei Nürnberg. Zwei Jahre war er „weggesperrt“, trotzdem gab es immer wieder Ärger. Letzter Ausweg: ISE - Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung. „Ich ging für ein Jahr nach Spanien, kam dort unter die Obhut eines alten ehemaligen DDR-Radsportlers. Ein harter Hund. Dennoch war es ein Knack- und Wendepunkt in meinem Leben“, sagt Wallisch heute.

Erstmals fühlte er sich ernst genommen, lernte Verantwortung für die auf dem Hof lebenden Tiere zu übernehmen und kümmerte sich um die Kinder seines Betreuers. Er war es auch, der Wallisch dazu brachte, Sport zu treiben. Das schule den Charakter, erklärte ihm sein „Boss“, kanalisiere überschüssige Energie und Kraft. Und beim Boxen galt es, Regeln einzuhalten. Wallisch fand Gefallen am Faustkampf, begann ernsthaft mit dem Training und blieb am Ball. Bei seiner Rückkehr nach Deutschland gab ihm das Boxen weiter den großen Halt. Er ging auf Empfehlung seines „Ziehvaters“ zur Sportschule in Chemnitz, gehörte drei Jahre dem Landeskader an, boxte für den BCC in der Bundesliga. Und er machte erst seinen Realschulabschluss,schloss danach eine Ausbildung zum Europa- und Fremdsprachenkorrespondenten ab.

„Sprachen haben mich immer schon fasziniert, sie zu lernen, fiel mir leicht. Inzwischen beherrsche ich Englisch, Spanisch und Französich fließend, und in gut ein Dutzend Sprachen kann ich mich verständigen.“

Michael Wallisch schien seinen Weg ins Leben gefunden zu haben. Bis zum Herbst 2011 lief alles glatt. Doch beim Oktoberfest in München geriet er mit drei Holländern in Streit. Der eskalierte schließlich, es flogen Fäuste. Der Boxer, seit März 2010 im Profigeschäft und siebenmal ungeschlagen, blieb auch diesmal Sieger – und war am Ende doch der ganz große Verlierer.

Denn bei der Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung ahndete der Richter insbesondere auch den Kardinalfehler, dass der Profi-Boxer Wallisch zugeschlagen hatte. „Die drei Jungs haben zwar keine bleibenden Schäden, aber es war schon ziemlich blutig. Ich habe echt Scheiße gebaut, da gibt es nichts zu beschönigen. Und weil ich eben aus Jugendzeiten schon Dreck am Stecken – sprich Vorstrafen - hatte, bekam ich zweieinhalb Jahre Haft ohne Bewährung.“

Die saß der Faustkämpfer a.D. in der JVA Burg ab. Zum Teil, wegen guter Führung und positiver Prognose bei der Resozialisierung, im offenen Vollzug. „Wenn du einsitzt, weißt du erst, was die Freiheit wirklich wert ist. Es ist nur schwer zu ertragen, wenn andere entscheiden, wann du aufs Klo gehen darfst, wann essen, wann schlafen, wann trainieren. Wer dich besuchen darf und wann du Freigang hast.“

Die Denkpause hinter Gittern nutzte er, um zur Erkenntnis zu kommen, dass er eigentlich viel zu schlau sei, um Konflikte mit Gewalt zu lösen. „Körperlich zu kommunizieren, ist die dümmste und letzte Art, Probleme zu lösen. Dass ich das eigentlich gar nicht nötig habe und es cleverer ist, sich mit Intelligenz verbal zur Wehr zu setzen, sehe ich erst jetzt so.“ Die wenige freie Zeit nutzte der Box-Profi, um sich so gut es ging fit zu halten. Den Freigang wiederum, um beim Magdeburger Boxstall SES für sein Comeback zu trainieren. Quasi aus dem Knast heraus bestritt der Schwergewichtler den ersten Kampf unter SES-Flagge: „Es war gleich ein Duell um die Deutsche Meisterschaft – krass. Ich bin Ulf Steinforth als Promoter sehr dankbar, dass er mir vertraut und eine zweite Chance gegeben hat.“ Die habe eigentlich jeder verdient, bekomme aber eben nicht jeder.

Wallisch, die neue deutsche Schwergewichtshoffnung, schon. Und er wollte die Chance nutzen, unbedingt, um sein großes Ziel, irgendwann einen der Klitschkos vor die Fäuste zu bekommen und Weltmeister im Schwergewicht zu werden, zu erreichen. Dafür trainierte der Schützling von SES-Chefcoach Dirk Dzemski weiter hart. Und noch härter, seitdem er Anfang 2015 „raus“ ist aus dem Knast. Als freier Mann krönte der inzwischen 30-Jährige seine bisherige Profi-Karriere mit dem Gewinn des EM-Titels nach Version des anerkannten Welt-Boxverbandes WBO.

Diesen Gürtel verteidigt er am Sonnabend in Berlin das erste Mal. „Durch die Niederlage von Wladimir Klitschko ist endlich Bewegung in das Schwergewichtsboxen gekommen. Und vielleicht bin ich gerade zur rechten Zeit zurück im Leben und im Ring. 2016 könnte mein Jahr werden. Ich habe viel vor.“

Dennoch treibt den Boxer auch noch eine andere Mission um. Denn dass er mit der Wahrheit über sein Leben so offen umgeht, hat mit seinem sozialen Engagement zu tun. Darüber zu sprechen, dass eine schlimme Kindheit ihn geprägt und tiefe Narben auf der Seele hinterlassen hat, dass er „einiges auf dem Kerbholz“, vieles falsch gemacht, und dabei auch Menschen buchstäblich verletzt hat, ist nicht nur eine Art Selbsttherapie und der erste Schritt zur positiven Vergangenheitsbewältigung.

Mit seiner wahren Geschichte will der Boxer den Draht zu Kindern und Jugendlichen bekommen, die drohen, so wie er einst auf die schiefe Bahn zu geraten. Seit Sommer hat der mit seiner Freundin Angie (24) in Essen lebende Wallisch die Schirmherrschaft über das Jugendhilfswerk „dein Kult“ übernommen. Hier sieht er sich als Pate, Wegweiser und warnendes Beispiel zugleich: „Ich bin keinesfalls stolz auf das, was ich gemacht habe. Aber ich will den Kids vor Augen führen, dass niemand perfekt ist, niemand unfehlbar.“

Seine Botschaften sind klar und prägnant: Jeder kann Kult sein! Und: Egal, was passiert, verliere dein Ziel nie aus den Augen! Ist jemand auf die schiefe Bahn geraten, sei es der erste Schritt in die richtige Richtung, zu seinen Taten zu stehen, so schlimm sie auch gewesen sein mögen. „Aus meiner Erfahrung heraus kann ich sagen: Nichts, aber auch gar nichts auf der Welt ist es wert, seine Freiheit aufs Spiel zu setzen. Oder sie wie ich sogar zu verlieren.“