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Finanzen Kommunen rutschen tiefer ins Minus

Die Kommunen nehmen Jahr für Jahr mehr Geld ein - dennoch ist das Defizit der kommunalen Kassen auf mehr als 1,4 Milliarden Euro geklettert.

05.07.2016, 23:01

Magdeburg l Nix ging mehr. Vor drei Jahren, im Sommer 2013, steuerte die Stadt Oberharz am Brocken auf die Pleite zu. 24-Millionen-Euro-Schuldenberg, Stadtrat-Blockade gegen das Sparkonzept, kein Geld mehr von den Banken – Bürgermeister Frank Damsch (SPD) konnte keine Rechnungen mehr begleichen. Erst nach großem Zwist fasste der Stadtrat den schmerzhaften Beschluss für ein Haushaltskonsolidierungskonzept. Eine Millionenzahlung des Landes stellte die Liquidität zumindest für die nächsten Monate wieder sicher.

Großen Gestaltungsspielraum hat Frank Damsch auch heute nicht. 2016 wird die Stadt voraussichtlich wieder ein Minus in Höhe von mehr als zwei Millionen Euro einfahren. „Unsere Ausgaben haben wir soweit minimiert, wie es geht. Auch bei den Einnahmen ist das Maximum erreicht“, sagt er. „Trotzdem sind wir langsam auf einem guten Weg.“

Das Sparkonzept wird konsequent umgesetzt: Eintritte und Steuern wurden erhöht, die Freibäder werden nun von Vereinen betrieben. Jeder Euro wird zweimal umgedreht. „Mehr Konsolidierung geht nicht“, sagt Damsch. 2021, wenn die letzten Maßnahmen greifen, soll die Stadt erstmals über einen ausgeglichenen Haushalt verfügen. An die Rückzahlung der Schulden ist da aber noch lange nicht zu denken.

So wie der Stadt Oberharz am Brocken geht es vielen Gemeinden in Sachsen-Anhalt. 117 der 247 Kommunen haben 2016 keinen ausgeglichen Haushalt. Das sind die Gründe:

Gemeinden erhalten zwar Einnahmen – von der Grundsteuer bis zum Strafzettel für Falschparker –, doch damit können sie im Schnitt nur etwa die Hälfte aller Kosten tragen, die in Kindergärten, Schulen, Freibädern oder Feuerwehren anfallen. Daher gibt es vom Land jährlich einen Zuschuss – den sogenannten Finanzausgleich (FAG). Dessen Höhe richtete sich bis 2009 nach der allgemeinen Kassenlage des Landes. Und die war selten gut. Da das Geld nicht reichte, nahmen Kommunen Kassenkredite auf – eine Art Dispo, um laufende Ausgaben wie Gehälter und Rechnungen zu bezahlen. Die Kredite haben sich auf mehr als 1,4 Milliarden Euro summiert.

2010 wurde das System umgestellt: Fortan sollte sich der Landeszuschuss nach dem tatsächlichen Bedarf der Kommunen richten. Dabei gab es zwei Haken: Nahmen die Gemeinden mehr ein oder senkten sie ihre Kosten, sank der Bedarf und damit der Zuschuss des Landes. Vereinfacht gesagt: Kam ein Euro mehr in die Kasse, wurde er beim Finanzausgleich wieder abgezwackt. So konnten die Kommunen keinen Überschuss erwirtschaften, der aber nötig ist, um die Dispos abzubauen.

Zweiter Haken: Bei der Berechnung des Bedarfs gibt es viele Formeln und Durchschnittswerte – und daher seit Jahren Streit. Ein Beispiel: Zugrunde gelegt wird etwa die Steuerprognose, nicht aber die tatsächlich geflossenen Einnahmen. Kommt weniger Geld rein als gedacht: Pech gehabt.

Unter dem Strich hat der Finanzausgleich nicht geholfen, die Kassenkredite zu senken. Im Gegenteil: Sie stiegen seit 2010 sogar um 40 Prozent an. Auch die Zukunftsprognosen sehen zum Teil düster aus. Die kleine Stadt Hecklingen (Salzlandkreis) erwartet in diesem Jahr eine Anhebung ihres Kassenkredits auf 5,5 Millionen Euro. 2010 lag dieser noch bei 3,8 Millionen Euro. Im Salzlandkreis werden die Kassenkredite 2016 vermutlich die 100-Millionen-Euro-Marke erreichen.

In Genthin ist allein in den vergangenen eineinhalb Jahren ein Defizit von fünf Millionen aufgelaufen – trotz Einsparungen im Haushalt in Höhe von zwei Millionen Euro jährlich. „Wir rechnen damit, dass wir spätestens im Jahr 2018 die zehn Millionen erreichen werden“, sagt der Genthiner Bürgermeister Thomas Barz. Die finanzielle Situation der Stadt sei „dramatisch“. „Das kommunale Finanzsystem ist insgesamt aus dem Lot geraten.“

2014 und 2015 senkte das Land den im FAG festgelegten Zuschuss um insgesamt 86 Millionen Euro ab. Dessen Logik: Der Bedarf der Kommunen sinkt, da deren Steuereinnahmen steigen – außerdem wollte Ex-Finanzminister Jens Bullerjahn (SPD) den Einspardruck hoch halten.

Tatsächlich stiegen die kommunalen Steuereinnahmen in beiden Jahren um 121 Millionen Euro an. Auch andere Leistungen wie Investitionsprogramme haben die Mittel der Kommunen insgesamt steigen lassen. Trotzdem sind die Defizite gewachsen. Lutz Trümper, Magdeburgs Stadtoberhaupt und Präsident des Städte- und Gemeindebunds, sagt: „Das Geld reicht nicht, weil die Kosten noch schneller steigen.“

Nach Berechnungen des Spitzenverbandes sind die Tarife der Angestellten im kommunalen Dienst von 2010 bis 2016 um insgesamt 18 Prozent gestiegen. Bei den Erziehern haben allein die letzten beiden Tarifrunden ein Plus von rund acht Prozent ergeben. In Magdeburg führt das zu Mehrkosten von bis zu 5,8 Millionen Euro pro Jahr. „Der Betrag ist da, von jetzt auf gleich. Das kann man nicht ausgleichen“, sagt Trümper.

Trotz Mindestlohns sind die Sozialausgaben der Kommunen gestiegen. Im Jahr 2015 wurden rund 170 Millionen Euro mehr fällig als noch 2010. Eine Familie, die auf Hartz IV angewiesen ist, bekommt für Miete und Heizung Geld vom Staat. 40 Prozent davon tragen die Landkreise.

Die Ausgaben für Kinder- und Jugendhilfe sind gestiegen, im Landkreis Jerichower Land von fünf (2010) auf rund 8,6 Millionen Euro (2015) pro Jahr. Im Salzlandkreis sind die Ausgaben im gleichen Zeitraum um rund 22 Millionen Euro gewachsen.

Eine zusätzliche Belastung stellen zudem die Kita-Kosten dar: Für jedes dritte Kind zahlen die Kommunen den Beitrag anstelle der Eltern. Da seit 2013 wieder alle Kinder Anspruch auf Ganztagsbetreuung haben, sind die Gesamtausgaben gestiegen. Laut dem Statistischen Bundesamt haben die Kommunen in Sachsen-Anhalt 2014 rund 146 Millionen Euro mehr für Kitas aufgebracht als noch 2012.

2012 hatte eine Studie des Finanzministeriums gezeigt: Sachsen-Anhalts Kommunen verwalten sich zu teuer. Sie sind nicht so effektiv wie West-Kommunen, sie sind obendrein aber auch gut 200 Millionen Euro teurer als Gemeinden in den anderen Ost-Ländern, die ähnliche Strukturen haben.

Zwei Ursachen machten die Experten aus: Die Gemeindereform hin zu größeren Einheiten hat sich zu lange hingezogen. Und: Sachsen-Anhalt hat sehr viele kleine Schulen. Für die Sachkosten wie Heizung und Gebäudeerhalt müssen die Kommunen aufkommen. 2014 wurden in einem ersten Schritt 31 kleinste Grundschulen geschlossen. Eine zunächst für 2017 geplante zweite Fusionsaktion wurde nach heftigen Protesten abgeblasen.

Auch auf Bundesebene gilt eine neue Richtung, Bundesbildungsministerin Wanka (CDU) gab jetzt ein Plädoyer für die Schule im Dorf ab. Das Thema Schulschließung ist durch, glaubt der Städte- und Gemeindebund. Auf diesem Feld lassen sich keine Kosten mehr senken.

Beim Personal sehen die Bürgermeister die Grenzen ebenfalls erreicht. Von 2000 bis 2014 haben die Kommunen rund 27 000 Stellen abgebaut. Aktuell haben sie etwa 46 000 Beschäftigte. „Im Moment geht der Trend eher dahin, dass der Bestand wieder moderat aufgebaut wird“, sagt Trümper. Zum einen hätten die Kommunen von Bund und Land mehr Aufgaben übertragen bekommen, zum anderen sei der hohe Zustrom der Flüchtlinge nur mit mehr Personal zu stemmen, argumentieren die Kommunen.

 Alle sind sich einig, dass der Finanzausgleich neu geregelt werden muss. Gut wirtschaftende Gemeinden müssen einen Bonus behalten, die leidigen Kassenkredite verschwinden. „Aktuell kommen uns die niedrigen Zinsen entgegen. Doch wenn die wieder steigen, kann einem angst und bange werden“, sagt Trümper mit Blick auf die Schulden.

Da die neue Regelung kompliziert ist und die Debatte darüber lange dauern wird, hat die neue Koalition aus CDU, SPD und Grünen eine Zwischenlösung beschlossen: Der jährliche Zuschuss (FAG) wird bis 2021 auf 1,52 Milliarden Euro festgezurrt. Die Kommunen bekommen jedes Jahr 80 Millionen Euro mehr, als zuletzt für 2016 vorgesehen waren (1,44 Milliarden Euro). Landräte und Bürgermeister sind fürs Erste erleichtert. Auch der Bund könnte helfen. Ab 2018 könnten Sachsen-Anhalts Kommunen gut 150 Millionen Euro mehr pro Jahr erhalten.

Finanzminister André Schröder (CDU) fordert dennoch weiter große Sparanstrengungen von den Gemeinden in Sachsen-Anhalt, die rote Zahlen schreiben. Er will die Kosten demnächst erneut untersuchen lassen. Schröder sagt: „Bei der Konsolidierung darf es keinen Schlussstrich geben.“

Die Stadt Oberharz am Brocken hat ihr Defizit seit 2013 auf gut 20 Millionen Euro abgebaut. Auch in Zukunft werde man alle Möglichkeiten ausreizen, sagt Bürgermeister Damsch. „Doch am Ende werden einige ländlich geprägte Gemeinden sicher dauerhaft Hilfe des Landes brauchen“, sagt er. „Die Voraussetzungen sind andere als in den Städten: Für unsere 11 000 Einwohner müssen wir nun mal trotzdem 111 Kilometer kommunale Straßen unterhalten, wir pflegen auch mehr Grünflächen. Man sollte anerkennen, dass dieser Mehraufwand dauerhaft höhere Ausgaben nach sich zieht. Es ist nicht so, dass wir nicht sparen wollen.“