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Freiberufler Der Fahrradkantor

Martin Schulze radelt als freiberuflicher Kirchenmusiker durch halb Deutschland. Auch in Sachsen-Anhalt ist er unterwegs.

Von Manuela Bock 03.09.2017, 14:59

Stendal l Martin Schulze legt rund 15.000 Kilometer im Jahr zurück und spielt als freiberuflicher Kirchenmusiker auf Orgeln in Städten und Dörfern in Norddeutschland, Brandenburg, im Erzgebirge und in Sachsen-Anhalt.

Martin Schulze ist leicht zu erkennen, so wie er da vor der Marienkirche im Stendaler Stadtzen­trum steht. Im Sportdress, mit einem Rennrad und prall gefüllten Satteltaschen. Er tippt noch schnell etwas auf seinem Handy. „Ein Geburtstagsgruß für einen Kollegen“, sagt er. Das Handy hat er zwar stets dabei, aber benutzen kann er es nur, wenn er eine Pause einlegt. Jetzt ist so eine Pause. Gerade eben ist er aus Arendsee herangeradelt. 50 Kilometer. Für ihn ist das ein „Katzensprung“.

Martin Schulze ist der „Fahrradkantor“. Seine Saison beginnt im April. Bis Ende Oktober legt er jedes Jahr rund 10.000 Kilometer mit seinem Rennrad zurück und spielt als freiberuflicher Kirchenmusiker auf den Orgeln in den großen Kirchen, aber auch in kleinen, beschaulichen Gotteshäusern. Heute Abend lässt er die „Königin der Instrumente“ in Bellingen, einem Dorf bei Stendal, erklingen, gestern war am äußersten Zipfel von Sachsen-Anhalt. Nur ganz selten nimmt der 50-Jährige den Zug, wenn die Strecke doch mal zu lang oder die Zeit zu knapp ist. Alle zwei Wochen macht er einen kurzen Zwischenstopp im heimischen Frankfurt (Oder), „um Wäsche zu waschen und die Familie mal wieder zu sehen“, sagt der zweifache Familienvater. Seine Frau, eine Tierärztin, die als Sängerin auch schon so manches Konzert mitgestaltet hat, und die beiden Töchter kennen das. Für sie ist es normal geworden, dass Martin Schulze in der warmen Saison durch die Lande tingelt. Die ältere der beiden Töchter begleitet den Papa manchmal auf den Touren, sitzt im Fahrradwagen und lauscht in den Kirchen der Musik, die er aus den Orgeln zaubert.

Er erinnert sich, als er in einer Kirche spielte und dem letzten Ton der laute Ruf der Tochter folgte: „Können wir jetzt ein Eis essen gehen?“ Das Publikum lachte. Die Menschen, die kommen, wenn er spielt, lieben genau das. Diese Bodenständigkeit, die verknüpft ist mit den himmlischen Klängen. „Viele kommen, weil sie die Musik hören möchten, manche, weil sie neugierig sind, wer da spielt, und einige, weil ich eben der Fahrradkantor bin“, weiß Schulze. Den Spitznamen haben ihm vor knapp 20 Jahren seine Kollegen in Mecklenburg verpasst. „Er ist entstanden, weil ich bei meiner ersten Kantorenstelle in Friedland im Winter mit dem Rad nach Ratzeburg zum Kantorentreffen gefahren bin. Das war Anfang Januar, rund 230 Kilometer hatte ich zurückgelegt. Da hieß es: Meine Güte, der Fahrradkantor!“, erzählt er. Eigentlich hatte er sich damals aufs Rad geschwungen, weil er erst spät, mit Ende 30 den Führerschein gemacht hatte. Da blieb nur das Rad als Verkehrsmittel.

Geradelt ist der sportliche Mann schon immer gern. Aufgewachsen in der Nähe von Berlin, hat Martin Schulze als Kind das Radfahren und die Nähe zur Natur lieben gelernt. Aber auch die zur Musik und die zu Gott. Die Familie hielt sich an den evangelischen Glauben, die Mutter spielte Geige. „Darum sollte ich wohl auch dieses Instrument spielen können“, sagt er. Die Geige jedoch berührte ihn nicht, ihn zog es zur Kirchenmusik. Seinen Berufswunsch knüpfte der Junge an ein Theologiestudium.

Dass er später mal durchs Land radelt und Kultur in Kirchen bringt, konnte niemand vorhersehen. Sein Lebensweg hat keine schnurgerade Richtung genommen, ist geprägt von Umwegen und „Bauchentscheidungen“. Martin Schulze findet das gut, sagt er. „Sonst wäre ich nicht so, wie ich bin, würde heute nicht so sehr die Freiheit genießen können.“

An einen Studienplatz zu kommen, war zu DDR-Zeiten für ihn nach der zehnten Klasse aussichtslos. Er begann eine Tischlerlehre, um im weitesten Sinne die Richtung zum Orgelbau einzuschlagen. „Mir war klar, dass dies nur ein Intermezzo wird“, erinnert sich Schulze. Ein unschönes Zwischenspiel erlebte der Mann, der offen ausspricht, was er denkt, als er ein Jahr ins Gefängnis musste. „Ich hatte in den Augen der Oberen wohl meine Klappe zu weit aufgemacht“, schildert er knapp den Grund. Die Zeiten sind für ihn abgehakt. Lieber erinnert sich Martin Schulze an das kirchenmusikalische Seminar in Halberstadt, an sein Kirchenmusik-Studium in Greifswald und seine erste Kantorenstelle.

Seine Konstante ist das Fahrradfahren. Egal, wohin er muss, er tritt in die Pedale. Die Räder – er hat drei, die er abwechselnd benutzt – sind sein Markenzeichen geworden. Als er erkannte, „dass die Leute darauf anspringen“, wenn gesagt wird, er sei mit dem Fahrrad gekommen, um Orgel zu spielen, reifte die Idee, darauf seine Freiberuflichkeit zu gründen. „Wenn es heißt: Der Kantor ist heute 130 Kilometer mit dem Rad hierher gekommen, ist das ein gewisser Ansporn“, meint er.

Nach knapp 20 Jahren der radelnden Selbständigkeit hat es sich herumgesprochen, was er macht. Er hat ein Netzwerk aufgebaut, Kollegen und Freunde, Besucher empfehlen ihn weiter. Er erhält Einladungen, soll vorbeikommen und auf der Orgel spielen. Was anderes machen? Das kommt ihm nicht in den Sinn. „Ich könnte nicht irgendwo fest sitzen“, meint Martin Schulze, „auch, wenn man nie weiß, was kommt.“ Er erzählt von Touren, auf denen er die Landschaft förmlich in sich einsaugt, um die Einflüsse später in seine Musik einfließen zu lassen. Von einsamen Landstraßen, von kleinen Pannen und von Stürzen. Seinen schlimmsten erlebte er, als er beim unvorsichtigen Fahren im Graben landete. Eine Woche hielt er still mit dem gebrochenen Schlüsselbein. Dann fuhr er zum ärztlichen Kontrolltermin. Der Arzt schüttelte den Kopf. Und Schulze radelte wieder los. Stillstand ist nichts für den „Fahrradkantor“. Die Räder müssen sich drehen.

Und er will spielen und den Menschen die Musik nahe bringen. Darum freut er sich, wenn er herzlich in den Gemeinden aufgenommen wird. Wenn er an seinen Zielen ankommt, bleibt für den „Kaffeejunkie“ meist noch Zeit, bei den Gesprächen eine Tasse zu trinken, ein bisschen zu plaudern und das Programm durchzugehen.

Meist widmet er sich dann den Instrumenten, manche müssen gestimmt werden, an manchen legt er noch ein bisschen Hand an, weil sie im „Dornröschenschlaf“ liegen, verzogen sind oder verschlissen. Die Größe des Konzertraumes ist ihm allerdings egal, meint der Fahrradkantor. „Es macht Spaß, in großen Kirchen zu musizieren, aber auch in kleineren, intimen Runden. Ich habe es oft erlebt, beispielsweise in der Altmark, dass sich die Leute wirklich freuen, wenn etwas los ist. Die Instrumente dort werden viel zu selten gespielt, weil keine Organisten da sind. Dann stupse ich alle mit der Nase drauf: Hört mal, was ihr für ein schönes Instrument habt!“ Er hat schon erlebt, dass erst tote Vögel aus den Pfeifen herausgeholt werden mussten. Im besten Fall ist es der Staub der Monate, seitdem er das letzte Mal hier war. Nach dem Konzert schläft er in den Betten, die ihm angeboten werden, oder rollt auf dem Boden im Gemeindesaal Schlafsack und Isomatte aus. „Ich bin dabei nicht so anspruchsvoll.“

Martin Schulze kehrt oft dorthin zurück, wo er herzlich aufgenommen wurde, hat feste Auftrittsorte wie in Seehausen in der Altmark, erweitert allerdings auch seinen Radius. Seit er sich auf Facebook zeigt, kommen auch Anfragen aus weiter entfernten Orten. Bisher radelte er quer durch die östlichen Bundesländer. Jetzt klopft man aus dem Saarland und der Schweiz bei ihm an. Das könnte auch mit dem Buch zusammenhängen, das er in diesem Jahr veröffentlich hat. In „Meister der Pedale: Mit dem Fahrradkantor unterwegs“ erzählt der radelnde Kirchenmusiker, was er erlebt hat. Spannend schildert er in seinen Reiseerlebnissen, wie er einst für einen Bankräuber gehalten wurde oder wie er bei Stromausfall im Licht einer altersschwachen Stirnlampe musiziert hat. Das Ganze würzt er mit kleinen Anekdoten, biografischen Fakten und seinem musikalischen Wissen über norddeutsche Barockmusik des 16. und 17. Jahrhunderts und der deutschen Spätromantik. Einen Teil davon spielt er auf seinen Reisen, bei denen er es auf bis zu 120 Konzerte bringt. Die Noten dafür wiegen schwer in den Satteltaschen, in denen sich sonst nur noch ein Schlafsack, Waschzeug, ein paar Karten, eine Hose, seine beiden T-Shirts mit dem Fahrrad-Orgel-Bild, die er auch bei Auftritten trägt, befinden. Die Noten sind das Futter für die drei verschiedenen Programme, die er variiert.

Martin Schulze sagt: „Das Orgelspielen ist für mich eine Form des Gottesdienstes.“ Und ein Segen sind eben für ihn viele Kilometer durch schöne Landschaften. 35 Kilometer lang ist im Schnitt die kürzeste Tagesstrecke. Es gab aber auch schon Tage, wo er Hunderte Kilometer zurückgelegt hat. Dazu kommen noch 5000 Kilometer im Winter zu Hause, wo er sich fit hält und als Orgelsachverständiger in Ostbrandenburg unterwegs ist, zwischen Chören und Gemeinden pendelt. Es gibt nicht viele Wetterlagen, die ihn davon abhalten können, sich auf den Sattel zu schwingen oder Orgel zu spielen – unterwegs oder zu Hause auf der Sauer-Orgel mit den 36 Registern in der Frankfurter Getraudenkirche. „Von nix kommt keine Kondition und kein virtuoses Musizieren. Das ist wie bei einem Leistungssportler“, so Martin Schulze. „Wenn nichts dazwischenkommt, mache ich das bis zur Rente.“

Das Handy vibriert wieder. „Ich muss leider los“, sagt Schulze. Seine Radfahrer-Schuhe klackern auf dem Pflaster, als er zum Eingang der Marienkirche geht. Ausnahmsweise schiebt er das Rad. Er sagt noch: „Wenn ich mir überlege, warum mich Menschen besonders finden, warum mich der Verlag angesprochen hat, ein Buch zu schreiben, oder warum Sie mich treffen wollten, stelle ich mir das vor: ,Wie würde ich einen Maler finden, der von Ort zu Ort geht, um seine Gemälde zu erschaffen?‘ Die Antwort ist: Ich fände es wunderbar, dass jemand Kunst auf ungewöhnliche Weise in die Welt bringt.“