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Hospiz Der Tod lässt nur halbe Wunder zu

Menschen angesicht des Todes Trost zu spenden ist schwierig. Zwei Frauen aus Sachsen-Anhalt stellen sich dieser Aufgabe.

Von Susann Gebbert 02.02.2017, 00:01

Magdeburg l Wunder haben die beiden Frauen noch nicht erlebt. Allenfalls Halbwunder. Ein schwacher Mensch konnte wieder spazieren gehen, ein anderer lebte ein halbes Jahr länger. Wer, wie Tabea Friedersdorf und Angela Huchel, Menschen beim Sterben begleitet, weiß, dass der Tod nur Halbwunder zulässt. Da sein, die Hand halten und schließlich eine Kerze anzünden, das ist ihr Job. Angela Huchel fährt als ehrenamtliche Hospizbegleiterin zu den Sterbenden nach Hause. Tabea Friedersdorf ist die Leiterin des Hospizes der Pfeifferschen Stiftungen in Magdeburg.

Haus 16 ist die Endstation für zehn Menschen. Es ist ein Hospiz, ein Ort zum Sterben. Im Erdgeschoss sind die Erwachsenen, obendrüber stehen acht Betten für Kinder. „Unser Ziel ist der Tod“, sagt Tabea Friedersdorf, Leiterin des Magdeburger Hospizes. Bei ihr sterben alle gleich, vom Straßenkehrer bis zum Professor. Die meisten Gäste, wie sie im Hospiz heißen, sind zwischen 50 und 70 Jahre alt und leiden an Krebs oder Organschwächen wie Herzinsuffizienz.

Die Sterbebegleitung im Hospiz kann Tage, Wochen oder Monate dauern, manchmal sind es auch nur Stunden. Wenn ein Patient das Krankenhaus mit einer unheilbaren Krankheit, starken Symptomen und der Aussicht auf einen baldigen Tod verlässt, hat er drei Optionen: Pflegeheim, Pflege zu Hause oder Hospiz. Es sind Optionen für Ärzte, es bedeutet Ohnmacht für Angehörige, die meist über den letzten Aufenthaltsort entscheiden.

Neben der Umsorgung von Sterbenden im Hospiz gibt es auch die ambulante Sterbebegleitung. Ein Beispiel dafür ist Franz Wegner. Er wollte zu Hause sterben bei seiner Frau. Wegner hat Speiseröhrenkrebs. Ehefrau Helga bleibt an seiner Seite bis zum Schluss. Sie pflegte ihn ein Jahr lang, zum Teil 24 Stunden am Tag, bevor er mit 67 Jahren stirbt. Angela Huchel besucht das Paar ein, zwei Stunden am Tag. Sie ist da, wenn Helga Wegner ihre Kinder besuchen oder einkaufen will, sieht Franz Wegner zu, wie er Rauchwolken in die Küche bläst.

Als ehrenamtliche Sterbe­begleiterin fährt Angela Huchel seit über zehn Jahren zu sterbenden, schwer kranken Menschen nach Hause. Während ihrer Ausbildung zur Krankenschwester – noch zu DDR-Zeiten – empfand sie das Sterben im Krankenhaus als unwürdig. Es gab keine Rituale, keinen Platz zum Verabschieden. „Die Patienten wurden aus ihren Mehrbettzimmern hinaus ins Stationsbad zum Sterben geschoben.“

Auch ihre eigenen Eltern hat Angela Huchel gepflegt. Ihr Vater stirbt, als sie 26 Jahre alt ist, die Mutter einige Jahre später. Als sie einen Aufruf des Hospizvereins „Regenbogen“ in der Zeitung liest, bewirbt sie sich um die einjährige Ausbildung zur Hospizhelferin. Sie lernt Schmerztherapien kennen, beschäftigt sich mit Rechts- und Bestattungsfragen, erfährt, wie man Trauernde begleitet, Schweigen aushält und ein Gespür für Spannungen entwickelt. Auch die eigenen Trauererfahrungen müssen die Ehrenamtlichen reflektieren. Angela Huchel will zu einem würdevollen Tod beitragen. Ein Licht anzünden und den Toten nicht gleich aus dem Haus zu verbannen, gehört für sie dazu. Sie kümmert sich um etwa drei Todkranke im Jahr. Tabea Friedersdorf, eine zierliche, blonde Frau mit strengem Gesichtsausdruck, sieht etwa 120 Menschen im Jahr kommen, und schließlich auch, wie sie hinaus getragen werden. Wer ein Zimmer in ihrem Haus will, muss sich einem Gespräch mit der 58-Jährigen stellen. Stellt sich dabei heraus, dass sie nicht dasselbe Ziel haben, den Tod, schickt die Hospizleiterin die Kranken und ihre Familien wieder nach Hause.

Oft haben Angehörige Angst, mit dem todkranken Menschen offen darüber zu sprechen, dass er zum Sterben in ein Hospiz geht. „Alle wollen, dass die Nächsten in Würde sterben, aber dazu gehört, offen mit dem Thema umzugehen“, sagt Tabea Friedersdorf. Sie kann das: deutliche Worte finden, nicht drumherum reden. Wer es nicht kann, muss Haus 16 verlassen. „Schwester Tabea, hier sterben ja alle“, wunderte sich eine alte Dame kürzlich. Sie starb zwei Tage später im Altenheim.

Friedersdorf hat das Hospiz mit aufgebaut. Sie wollte ein Stück des Kreuzes tragen. Heute sagt sie: „Was für eine Anmaßung! Ich habe doch keine Ahnung, wie sich das Sterben anfühlt.“ Alles was sie tun kann ist, ihre sterbenden Gäste zu begleiten. Keine Floskeln, nicht urteilen oder bewerten, nur spiegeln. „Muss ich sterben?“, fragen die Kranken. „Was denkst du?“, fragt Tabea Friedersdorf. Über den eigenen Tod sprechen die Hospizgäste untereinander nicht, zu intim das Thema. Sie können nur zusehen, wie ihre Tischgemeinschaften kleiner werden. Jeder hat seinen festen Platz. Was für eine Herausforderung, der zu sein, der übrig bleibt. Die Gäste essen gemeinsam im Gemeinschaftsraum, wenn die Kraft ausreicht. Hin und wieder setzen sich auch die Pfleger dazu. Die Wände sind bunt, auf dem Tisch liegen Kastanien und kleine Kürbisse.

Angela Huchel sitzt im roten Kapuzenpulli in der Küche ihres Elternhauses in Rohrsheim. Auch sonst ist ihre Welt farbenfroh. Im ganzen Haus verteilt hängen Fotos, bunt lackierte Schneckenhäuser und Mobiles mit Hühnergöttern sind in Räumen und dem Garten verteilt. Freunde sehen in ihr einen „Paradiesvogel“. Viele Jahre fuhr sie einen vierfarbigen Polo Harlekin. Es war das Bonbon auf den kopfsteingepflasterten Straßen im Dorf. Vor ein paar Jahren bleib nur noch die Option Schrottplatz. Die Hand neben die des Sterbenden zu legen, anstatt auf sie. Da sein, vielleicht aus einem Buch vorlesen, gemeinsam Musik hören und die Situation einfach aushalten. Das ist Angelas Aufgabe. Dann ist sie die Untergebene. Kein Platz für eigene Befindlichkeiten.

Es geht nur darum, was der Sterbende noch vom Leben will. Bisher gelingt es ihr, die vielen Abschiede nicht so nah an sich heranzulassen, dass es weh tut. Ihre große Familie fängt sie auf, wenn ihre Stimmung zu fallen droht.

Zum Team von Tabea Friedersdorf gehören 18 Angestellte, zu denen auch Volkmar Krauß zählt. Fällt die Tür von Haus 16 ins Schloss, betritt der große, schlanke Krankenpfleger eine andere Welt.

Mit Familie oder Freunden spricht er nicht über die Erlebnisse im Inneren der Wände. „Es gab zwei bis drei Situationen in meiner Anfangszeit hier, die ich mit nach Hause genommen habe. Das passiert mir heute eigentlich nicht mehr“, sagt der Krankenpfleger, der seit sieben Jahren im Hospiz arbeitet. Seine Chefin Tabea Friedersdorf achtet darauf, dass ihre Mitarbeiter den Job nicht mit nach Hause nehmen. Regelmäßig können sie an professionellen Beratungen, den Supervisionen, teilnehmen. Er findet nicht, dass Haus 16 ein trauriger Ort ist. Für Krauß ist es ein Ort, an dem auch viel gelacht wird. An dem Gäste und Pfleger zur Europameisterschaft gemeinsam Bier trinken, gemeinsam kochen, spielen, spazieren gehen.

An dem, wenn es gut läuft, alle das Beste aus der verbleibenden Zeit machen. Er gibt zu, es gelingt ihm nicht jeden Tag gleich gut. Je intensiver die Beziehung, desto schwerer der Abschied. Volkmar Krauß hat bald Urlaub. Er fährt an den Gardasee nach Italien zum Halbmarathon. „Wenn ich etwas machen möchte, versuche ich, es nicht lange aufzuschieben.“ Werden die alten Gesichter noch da sein, wenn er wiederkommt?

Haus 16 ist auch ein Ort, an dem Wünsche wahr werden. Ein letztes Mal zu einem Fußballspiel, ins Theater oder in den Zoo – die Gesunden aus Haus 16 versuchen, es möglich zu machen. Doch nicht immer klappt es. Ein letztes Mal noch wollte ein Gast ein Konzert von Peter Maffay sehen. Noch einmal in der Menge stehen und seine Stimme hören. Er gab ein Konzert in Magdeburg, doch sie war an dem Abend zu schwach. Peter Maffay schickte ihr eine CD mit persönlicher Widmung. Wie fühlt es sich an, das letzte Konzert im Leben? Das letzte Mal, den Lieblingsverein spielen zu sehen? Sieg oder Niederlage – ist der Ausgang egal?

Die Gäste im Hospiz dürfen sich ihr Zimmer so einrichten, wie sie es möchten. Rauchen, Haustiere, Elektroöfchen – alles ist erlaubt an diesen letzten Tagen im Haus 16. Vor allem Fotos bringen sich die Gäste mit, aber auch eigene Bettwäsche oder den Lieblingssessel, in dem sie es sich jahrelang gemütlich gemacht haben. Gegenstände, die sie überdauern werden.

„Es ist so eine schwierige Sache mit der Selbstbestimmtheit und der Würde“, so Friedersdorf. Was ist zum Beispiel mit dem Pfleger, der Rauchen nicht ausstehen kann und jeden Tag in eine verqualmte Bude muss, fragt sie. Die Welt der Sterbenden ist klein geworden, der Blick ist nur noch auf sie selbst gerichtet. Den Übergang in den Tod zu schaffen ist ein Kraftakt, der nur noch wenig Empathie zulässt. Ist er geschafft, zünden die Mitarbeiter die große Stumpenkerze auf dem Flur an. Sie brennt so lange, bis der leblose Körper Haus 16 verlässt.

Angela Huchel und Tabea Friedersdorf eint die ständige Erinnerung an den eigenen Tod. Die Frauen haben frühzeitig mit ihren Familien über ihren Tod und die Beerdigung gesprochen.

Angela Huchel möchte auf der Ostsee bestattet werden. Tabea Friedersdorf will es traditionell: eine Erdbestattung. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.