1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. „Justitia ächzt ganz schön“

Justizministerin „Justitia ächzt ganz schön“

Gerichte schlagen wegen Personalnot Alarm. Sachsen-Anhalts Justizministerin Anne-Marie Keding (CDU) berichtet über Wege aus der Krise.

Von Matthias Fricke 02.04.2017, 01:01

Überall schrillen in den Gerichten die Alarmglocken. Vor dem drohenden Kollaps wird gewarnt. Ist Justitia eigentlich noch zu retten?

Anne-Marie Keding: Justitia muss nicht gerettet werden. Sie ächzt aber ganz schön, das muss man sagen. Aber die Justiz in unserem Land kämpft auch, um ihrem Auftrag gerecht zu werden. Viele Richter und Staatsanwälte sind auf dem Höhepunkt ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit. Doch in einigen Jahren werden eben diese erfahrenen Kollegen nicht mehr da sein.

Und dann?

In zwölf Jahren wird die Hälfte aller Staatsanwälte und Richter in Pension sein. Selbst wenn wir das Personal eins zu eins ersetzen würden, wäre dies ein riesiger Verlust an Erfahrungen. Deshalb ist es wichtig, dass wir so schnell wie möglich und stetig Nachwuchs nachführen, damit das Wissen jetzt noch weitergegeben werden kann.

Aber eben dieser Nachwuchs fehlt seit Jahren. Wo soll der so plötzlich herkommen?

Im Bereich des mittleren Dienstes sind wir ja schon dabei. Hier haben wir derzeit das drängendste Problem. Da sind die Leute schon weg und müssen nachgeführt werden. Auch bei den Justizwachtmeistern werden wir so schnell wie möglich für eine Entlastung sorgen. Von den Neuzugängen erhoffen wir uns übrigens dann auch, dass sie frisches Wissen mitbringen.

Werden Sie ruhig konkret ...

Wir bilden in diesem Jahr 30 und im nächsten Jahr noch einmal 30 Anwärter des mittleren Justizdienstes aus. Das ist eine Verdopplung der Zahl der Vorjahre. Der mittlere Dienst braucht das jetzt auch. Er ist zurzeit am meisten belastet. Natürlich werden wir parallel dazu und vor allem mittelfristig auch das Problem der höheren Dienste und der Richter sowie Staatsanwälte angehen. Bei den Rechtspflegern ist es nicht ganz so gravierend. Da wurde in der Vergangenheit einiges getan und deshalb gibt es dort auch ein anderes Durchschnittsalter.

Was ist mit den Justizwachtmeistern? Es gibt ja schon jetzt einige Amtsgerichte, die gar keine Einlasskontrollen mehr haben ...

Das stimmt. Wir haben das Problem an einigen Amtsgerichten, aber auch an Landgerichten. Dort werden jetzt private Sicherheitsdienste eingesetzt. Natürlich können diese keine hoheitlichen Aufgaben übernehmen. Aber sie sollen zumindest die Wachtmeister unterstützen.

Das ist aber nur eine Sofortmaßnahme. Was haben Sie noch geplant, um den Kollaps zu verhindern?

Wir stellen die gesamte Aufbau- und Ablauforganisation in den Gerichten auf den Prüfstand. Wo wir an Stellschrauben drehen können, tun wir das auch.

Haben Sie da ein Beispiel?

Ja, ein ganz konkretes. Seit 2012 warten wir auf eine elektronische Schnittstelle zwischen dem Computersystem der Polizei und der Staatsanwaltschaft. Dort sind bis zu 15 Arbeitskräfte allein damit beschäftigt, noch einmal alle Kerndaten von Beschuldigten und Zeugen zu erfassen, die von der Polizei schon längst erfasst sind. Sie können nur nicht in unser System so ohne Weiteres übernommen werden. Dazu fehlt uns die digitale Schnittstelle. Jedes andere Bundesland hat so etwas. Nur wir nicht.

Das heißt, wenn der Fall von der Polizei an die Staatsanwaltschaft übergeben wird, geht das nur per Post und Sie erfassen alles noch mal neu?

Ja, zumindest, was alle Kerndaten betrifft. Aber das allein sind ja auch schon eine Menge.

Wo liegt denn das Problem?

Das Problem liegt in der Vergangenheit. Ich habe schon mit dem Innenminister gesprochen und wir wollen das jetzt angehen. Es war einfach so, dass die Polizei seit einigen Jahren ein neues System einführen will und die Etablierung einer Schnittstelle vor dem neuen System rausgeworfenes Geld wäre. Das kann ich auch noch ein Stück nachvollziehen. Aber angesichts des Personalmangels können wir die Schnittstelle nicht länger auf die lange Bank schieben.

Sie wollten doch sogar einen elektronischen Rechtsverkehr einführen. Wann soll das so weit sein?

Das elektronische Verwaltungspostfach wird jetzt freigeschaltet. 2019 kommen die ersten Standorte ans Netz. Immer mehr Behörden übermitteln auch elektronisch die Akten. Mit der Bundespolizei haben wir jetzt übrigens auch eine Schnittstelle. Wegen dieser großen Baustelle ist der mittlere Dienst übrigens auch so verzweifelt. Bis die elektronische Vorgangsbearbeitung steht, muss alles wieder auf Papier gebracht werden. Das ist ein riesiger Aufwand. Die elektronische Akte kommt ja erst irgendwann. Es läuft jetzt alles parallel. Das ist zurzeit auch das große Problem des mittleren Dienstes. Die Mitarbeiter tragen die Hauptlast, das sehen wir.

Zurück zu den Sofortmaßnahmen. Was planen Sie noch?

Wir sehen uns an, welche Möglichkeiten es gibt, zentrale Wachtmeistereien außerhalb der beiden großen Justizzentren in Halle und Magdeburg einzurichten. Stendal wäre eine Möglichkeit. Da gibt es jetzt Überlegungen, die Wachtmeister zentral zusammenzuführen und für alle im Justizzentrum ansässigen Behörden einzusetzen.

Und wie wollen Sie die Personalprobleme der Richter und Staatsanwälte lösen?

Eine teilweise Entlastung brächte die Überlegung, berufserfahrene Juristen anzusprechen und diese als „Richter kraft Auftrages“ einzusetzen. Das heißt, das sind ausgebildete Volljuristen, die aber vorher in der Verwaltung gearbeitet haben und nicht den üblichen Weg über die Probe-Richter gegangen sind. In der Finanzgerichtsbarkeit ist das bereits üblich und wir erwägen die Möglichkeit in anderen Bereichen. Vorausgesetzt natürlich, wir hätten die Stellen.

Wie groß ist denn die Chance, dass sie diese in der Koalition bewilligt bekommen?

Ich glaube schon, dass die Notwendigkeit gesehen wird. Wir dürfen natürlich nicht außer Acht lassen, dass das Land sich auch finanziell zukunftsfähig aufstellen muss. Wir haben einen großen Block an Personalkosten, zu denen später auch noch die Pensionslasten kommen. Es kann also nicht einfach drauflos Personal eingestellt werden. Doch jetzt wurden die Lehrer und Polizisten aufgestockt. Nun muss auch an die Justiz gedacht werden.

Wozu braucht man neue Polizisten, wenn die Täter dann wegen fehlender Staatsanwälte oder Richter ohnehin nicht verurteilt werden?

Das ist ein gutes Argument. Wenn man mehr Polizisten hat, gibt es in einigen Bereichen auch mehr Anzeigen. Diese müssen dann logischerweise auch verfolgt werden.

Hätte man nicht früher mit einem Einstellungskorridor der Personalnot entgegenwirken können?

Dann hätten wir ja Stellen doppelt gehabt.

Das würde ja voraussetzen, dass es zu viele Stellen gibt. Es sollen aber zu wenig sein.

Nein, so ist das nicht. Wir haben ja keinen Aufwuchs an Stellen. Bis auf wenige Ausnahmen sind die Fallzahlen in den vergangenen Jahren ja auch eher rückläufig. Wir sind eine Justiz, die sich nicht mehr aufbauen muss, sondern in ihrem Altersklassenaufbau verstetigen soll. Wenn wir die elektronischen Akten erstmal haben, wird es auch noch mal eine erhebliche Arbeitserleichterung geben. Bis diese aber erreicht ist, braucht es noch Kraftanstrengung.

Wenn es nach Ihrer Darstellung weniger Fälle geben soll und die Justiz nur an den Altersklassen knabbert, dann bleibt die Frage offen, wieso Verfahren so lange dauern?

Weil wir schon jetzt Altersabgänge haben und ein Stellenabbaukonzept der Landesregierung aus dem Jahr 2011 verfolgen, an dem die Justiz einen Beitrag geleistet hat.

Dann hat man damals zu sehr den Rasenmäher angesetzt?

Es ist schon alles sehr sportlich. Das Problem liegt doch folgendermaßen: Der öffentliche Dienst arbeitet nicht über Entlassungen, sondern über Altersabgänge. Die Folge war in den vergangenen Jahren, dass es so gut wie keine Neueinstellungen mehr gab.

War das nicht ein Fehler?

Ich hätte mich gefreut, wenn es diesen Abriss in der Generationenfolge nicht gäbe. Ein kurzes Aussetzen des Einstellungsstopps nach zwei oder drei Jahren hätte uns jetzt sicher jede Menge Probleme erspart. Wenn man über Jahre hinweg niemanden einstellt, passiert das. Der Generationsabriss macht uns zurzeit mehr Probleme, als man sich vorstellen konnte.

Aber es sind jetzt nur noch zwölf Jahre, dann gehen die Hälfte der Richter und Staatsanwälte in Pension. Woher sollen die kommen?

Wenn ich da mal wäre, dass ich sagen könnte: Wir werden jeden ausscheidenden Richter oder Staatsanwalt ersetzen können. Das wäre auch psychologisch für alle eine Erleichterung. Aber so weit sind wir noch nicht. Das muss ich zugeben. Wenn ich jeden ersetzen könnte, der aus welchen Gründen auch immer aktuell ausscheidet, das wäre schon gut.

Und warum geht das nicht?

Weil das Personalentwicklungskonzept, zu dem wir uns alle verpflichtet haben, noch immer einen Stellenabbau vorsieht. Deshalb sage ich ja auch, dass wir das nicht noch weiter betreiben können.

Wer müsste das entscheiden?

Das Kabinett bzw. der Landtag. Deshalb freue ich mich ja auch so, dass im jetzt beschlossen Doppelhaushalt wenigstens im Justizvollzugsdienst 100 Anwärterstellen genehmigt sind und die neuen Stellen im mittleren Dienst dazu kommen. Das müssen wir jetzt in der mittelfristigen Finanzplanung fortschreiben.

Auf was plädieren Sie noch?

Wir müssen möglichst schnell wieder in die Lage versetzt werden, jeden ausscheidenden Richter, Staatsanwalt und Justizsekretär zu ersetzen. Es muss jetzt eingestellt werden, dann kann man bei den hohen Abgangszahlen ab 2024 auch auf die eine oder andere Neubesetzung verzichten. Lieber jetzt noch ein bis zwei Richter mehr einstellen, bevor wir nachher gar keine mehr haben. Dafür werde ich mich einsetzen. Der mittlere Dienst wird jetzt aber Priorität behalten.

Eine andere Baustelle ist der Justizvollzug. Dort sollte der Neubau in Halle nach den Planungen aus 2012 schon dieses Jahr fertig sein. Jetzt ist als Bauende 2022 und der Umzug 2024 anvisiert. Haben Sie für die vier, statt drei geplanten Anstalten überhaupt noch das Personal?

Es sind mit dem Roten Ochsen sogar fünf. Wir haben die Anstalten in Burg, Raßnitz, Volkstedt und in Halle an zwei Standorten. Das bedeutet auch doppelter Pfortendienst und Wachen. Wir müssen das ursprüngliche Konzept strecken. Auch deshalb wollen wir jetzt die Neueinstellungen und erst später die hohen Altersabgänge für Einsparungen nutzen. Wir organisieren den Stellenabbau später, wenn 2024 der Umzug erfolgt ist.

Sie sagten zum Anfang „Justitia ächzt“. Wie sieht es in zwölf Jahren aus?

Dann müssen wir Nachwuchs an Bord und auf die elektronische Akte umgestellt haben. Ich muss es klar sagen: Wir haben anspruchsvolle Zeiten vor uns.