1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Gottgewollter Gesetzesbruch in Sachsen-Anhalt

Kirchenasyl Gottgewollter Gesetzesbruch in Sachsen-Anhalt

Christen gewähren Flüchtlingen Unterschlupf in Gemeinden. Dieses Kirchenasyl ist aufwändig. Das zeigt ein abgeschlossener Fall.

Von Elisa Sowieja 20.04.2017, 01:01

Genthin l Azad* macht heute eine Ausnahme. Er schwänzt seinen Deutschkurs. Denn der Syrer will unbedingt dabei sein, wenn die evangelische Gemeinde in Genthin der Zeitung eine wichtige Geschichte erzählt: Die, wie die Christen für ihn eine Ausnahme machten. Über drei Monate hat ein Dutzend Menschen auf Abende mit Familie und Freunden verzichtet und obendrein eine Strafanzeige riskiert. Ohne diesen Einsatz könnte der 24-Jährige jetzt keinen Deutschkurs machen – zumindest nicht in Deutschland.

Der junge Mann gehört zu den 23 Fällen aus dem Jahr 2016, in denen evangelische und katholische Gemeinden in Sachsen-Anhalt Flüchtlingen Kirchenasyl gewährt haben. Dabei geben sie diesen Menschen vorübergehend Unterschlupf, um sie vor Abschiebung zu bewahren. Der Staat toleriert das meist. Die Flüchtlingskrise hat die Fallzahl bundesweit nach oben getrieben, auch in Sachsen-Anhalt: 2014 wurden hier nur acht solcher Asyle registriert.

Inzwischen kommen zwar viel weniger Menschen nach Europa, doch die Nachfrage ebbt keineswegs ab. 2017 haben die zwei großen Kirchen im Land bereits 15 Fälle gezählt – das sind schon jetzt zwei Drittel so viele wie im gesamten Vorjahr. Ein wichtiger Grund: Asylanträge werden mit Verzögerung bearbeitet. Zudem haben einige der Kirchenasyle aus diesem Jahr schon 2016 begonnen, werden also doppelt gezählt.

Azad wollten die Behörden zurück nach Bulgarien schicken. Denn der Dublin-III-Verordnung zufolge müssen Flüchtlinge in dem Staat das Asylverfahren durchlaufen, in dem sie erstmals auf EU-Boden registriert wurden. Das Problem an Bulgarien: die Unterkünfte. Azad musste anfangs im Gefängnis leben, sagt er – ohne Licht und Wasser, mit gut 20 anderen in der Zelle. Dann, im Lager, schlief er auf dem Boden, waren die Toiletten kaputt, gab es wenig zu essen. So floh der Syrer weiter nach Deutschland und landete in der Gemeinschaftsunterkunft Genthin.

Als Azad die Abschiebung drohte, brachten die Genthiner Christen ihn in einem Beetsaal im Dorf Altenklitsche unter, den ihnen die Nachbargemeinde Schlagenthin zur Verfügung stellte. Eine Klappliege vorm Altar, Bad und Küche im Gebäude nebenan.

Die Entscheidung traf der Gemeindekirchenrat nach einer langen Beratung. Dabei kamen auch Bedenken auf den Tisch, erinnert sich der damalige Vorsitzende Günter Sander. „Ein wichtiger Punkt war die offene Dauer.“ Denn bei diesen Dublin-Fällen, die den mit Abstand größten Teil aller Kirchenasyle ausmachen, sitzt der Flüchtling eine Abschiebefrist aus, nach deren Ablauf Deutschland für ihn zuständig ist. In der Regel liegt die bei sechs Monaten, sie kann sich aber auf 18 Monate verlängern. Und den Aufwand während dieser Zeit kannten die Genthiner: Damals betreuten sie und die Schlagenthiner bereits gemeinsam einen anderen Syrer.

Kirchenasyl, wussten sie, ist weit mehr, als jemandem eine Klappliege hinzustellen. Denn da die Polizei in der Regel nur dann nicht eingreift, wenn sich der Asylant auf dem Kirchengelände befindet, muss die Gemeinde sein Leben organisieren. Dazu gehören Verpflegung, medizinische Versorgung, die Meldung des Asyls an die Behörden und vor allem Beschäftigung, damit der Flüchtling nicht vereinsamt.

Für Azad bildete sich ein Helferkreis mit einem harten Kern von zwölf Leuten. Einkäufe erledigte die Pfarrerin, für medizinische Notfälle standen zwei Ärztinnen bereit. Mit Besuchen wechselte sich die Truppe so ab, dass jeden Tag jemand dort war. Und das, obwohl fast alle Beruf und Familie haben. „Wir mussten dafür anderes sein lassen. Auf die Dauer war das schon schwierig“, erzählt Günter Sander. Statt Freunde zu trefffen oder den Garten umzugraben, lernten sie mit dem Syrer Deutsch, spielten Schach, aßen gemeinsam.

Azad konnte gut damit umgehen, am Großteil des Tages allein zu sein. Doch das gelingt nicht jedem: Im Schlagenthiner Fall zeigte der Asylant erste Anzeichen von Depressionen. Also mussten die Helfer gegensteuern und sich ständig Aufgaben ausdenken – Laub fegen etwa oder Fenster bemalen.

Ein Rattenschwanz an Herausforderungen hängt also am Kirchenasyl. So schauen die Gemeinden bei ihrer Entscheidung ganz genau hin, berichten die kirchlichen Berater für die Helferkreise im Land. „Die Frage ist nicht nur, ob das Ganze zu stemmen ist. Geprüft wird auch, ob die Gründe ausreichen“, sagt Petra Albert von der evangelischen Kirche. Ob also etwa bei Abschiebung Gefahr für die Gesundheit droht oder jemand seine Familie in Deutschland hat. Denn, und das betont jeder Christ, den man aufs Kirchenasyl anspricht, es ginge nicht darum, systematisch die Politik zu umgehen. Sondern um christliche Haltung gegenüber Menschen in Not.

In der Abwägung spielt noch etwas ganz anderes eine Rolle: das Gesetz. Denn wer jemandem Kirchenasyl gewährt, macht sich der Beihilfe zu illegalem Aufenthalt schuldig – darauf steht eine Geldstrafe oder sogar bis zu ein Jahr Haft.

Verfolgt wird das allerdings selten. In den vergangenen Jahren wurde zudem nur ein Fall bekannt, in dem jemand zur Kasse gebeten wurde: 2016 musste ein niedersächsischer Pfarrer 900 Euro für die Einstellung der Ermittlungen gegen ihn zahlen. Auch die Räumung eines Kirchenasyls ist die Ausnahme: 2016 wurde über zwei Fälle berichtet. Sachsen-Anhalt hält sich bisher zurück. Das Innenministerium teilt dazu mit, dass das Land eine Vereinbarung beachte, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) und die Kirchen getroffen haben. Der zufolge werden Kirchenasyle toleriert, wenn man sie auf begründbare Ausnahmefälle beschränkt.

Trotzdem tun sich die Gemeinden mit dem Gedanken, etwas Illegales zu machen, schwer, sagt Monika Schwenke, die katholische Gemeinden berät: „Es hinterlässt ein mulmiges Gefühl.“

Auch für die Genthiner Helfer fühlte sich der Rechtsbruch heikel an. Warum sie das aber in Kauf nahmen, erklärt Pfarrerin Beate Eisert so: „Es ist eine Gewissensentscheidung. Man muss Gott mehr gehorchen als dem Menschen.“ Im Fall von Azad gaben den Ausschlag für diese Entscheidung nicht nur die Zustände in Bulgarien. „Für uns war auch wichtig, dass wir ihn kannten.“ Denn der Syrer kam schon seit seiner Ankunft in Genthin, als Kirchenasyl noch kein Thema war, in die Gottesdienste und dolmetschte beim internationalen Musicalprojekt. Einen Wildfremden, sagt die Gruppe, hätte sie wahrscheinlich nicht aufgenommen. Hinzu kam: Azad reiste nach Europa ein, als die Dublin-Regelung ausgesetzt war – brauchte aber noch Zeit, um das zu beweisen.

Das Kirchenasyl hängten die Genthiner nicht an die große Glocke. So halten es die Gemeinden meistens, man will nicht provozieren. Auch wenn es trotzdem viele mitbekamen, erfuhr ihre Gemeinde kaum Gegenwind, erzählt Eisert. „Das hängt sicher immer mit der Stimmung im Ort zusammen“, glaubt sie. Nur einmal, nachdem sich in Schönhausen in der Altmark ein Kirchenasylant an einem Mädchen vergriffen hatte, da wurden Leute aus der Gemeinde auf dem Markt angesprochen: „Seht ihr, das habt ihr davon.“ Doch ansonsten, sagt Eisert, seien die Genthiner vorbildlich gewesen.

Azad konnte letztlich mit seinem Zugticket nachweisen, wann er nach Europa gekommen ist, er durfte einen neuen Asylantrag stellen und vorsprechen. Das Gespräch war gut, erzählt er. Bis die Entscheidung fällt, fährt er viermal die Woche nach Magdeburg zum Deutschkurs. Wenn alles klappt, will der Syrer dort ab Herbst Psychologie studieren.

Auch wenn dieses Kirchenasyl erfolgreich war: Sowohl die Genthiner als auch die Schlagenthiner haben vorläufig genug davon. Seit Azad aus dem Gebetsraum ausgezogen ist, hat Eisert drei neue Anfragen erhalten – und alle abgelehnt. „Dauerhaft ist so etwas nicht zu stemmen“, sagt sie. Es bleibt eben eine Ausnahme.

* Name von der Redaktion geändert