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Offene Kirchen Gemeinden im Zwiespalt

Aus Angst vor Vandalismus hadern Kirchenräte in Sachsen-Anhalt damit, ihre Gotteshäuser unbeaufsichtigt zu lassen.

Von Elisa Sowieja 31.01.2017, 00:01

Brumby l Die Seele der Brumbyer St.-Petri-Kirche liegt hinter der letzten Holzbank links. Ihre Gestalt ist ein dickes, schwarzes Buch voll mit unterschiedlichsten Handschriften. Wer sie entziffert, kann sich mit etwas Fantasie die Menschen ausmalen, die dieses Haus mit Leben füllen: Lkw-Fahrer Karol aus Poznan, der sich über die hilfsbereiten Leute in Deutschland freut. Sachse Holger, der extra seine Kamera mitbringt, weil er einen Wikipedia-Artikel über die Kirche schreiben will. Oder Ingolf, der zum ersten Mal ohne seine geliebte Ingrid hier ist, weil Gott sie ihm nach 16 gemeinsamen Jahren genommen hat.

Alle paar Tage kommt ein neuer Eintrag ins Anliegenbuch hinzu. Möglich ist das, weil dieses Gotteshaus im Salzlandkreis, eine Autobahnkirche, jeden Tag offensteht. Rentner Heinz Köhlitz, ein Brumbyer Urgestein, schließt es immer um acht auf und bei Einbruch der Dämmerung wieder zu – seit 1999 schon. Damals traf der Gemeindekirchenrat die Entscheidung, sein romanisches Kleinod auch außerhalb von Gottesdiensten zu öffnen. „Gerade nach der DDR-Zeit wollten wir, dass die Leute wieder in die Kirche kommen“, erzählt der 74-Jährige. „Sie ist ja kein Museum, sie soll leben.“

Sätze wie diese dürften Ilse Junkermann in Jubel versetzen. Die Landesbischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) hat gerade erst wieder an die Gemeinden appelliert, besonders jetzt, zum Reformationsjubiläum, ihre Gotteshäuser zu öffnen. Ihr Ziel: Bis zum Jahresende sollen 95 Prozent zugänglich sein. Die Realität sieht bisher allerdings anders aus. Von den mehr als 4000 Kirchen und Kapellen, die in Mitteldeutschland stehen, waren im Herbst 2015 nur drei Prozent verlässlich geöffnet. Wie viele es aktuell sind, weiß man nicht genau. Zwar startete die EKM im vergangenen Herbst eine Umfrage, die ergab, dass jedes dritte Gotteshaus mindestens im Sommer ihre Türen aufschließt. Doch machten nur acht Prozent der Kirchen überhaupt mit.

Die Entscheidung liegt immer bei den Gemeindekirchenräten. Doch die haben Angst. Vor Diebstahl, noch viel mehr aber vor Vandalismus. Diese Angst führt dazu, dass man etwa für die Magdeburger Wallonerkirche in Erwägung zieht, das bisher offene Gotteshaus künftig wieder abzuschließen. „Bei uns gibt es unterschiedliche Auffassungen“, sagt Kirchenratsvorsitzender Marco Ladewig. „Einig ist man sich aber darüber, dass sie nicht völlig ohne Aufsicht offen stehen soll.“ Bisher kamen Besucher von Mai bis September wochentags für zwei Stunden hinein. Für diese Zeit führte jemand aus der Gemeinde Aufsicht. Doch der Freiwilligendienst sei in letzter Zeit eingeschlafen, berichtet Ladewig. Schließlich werde die Gemeinde immer älter.

Wie wichtig es besonders im Jahr des Reformationsjubiläums wäre, ihr Gotteshaus zu öffnen, ist der Gemeinde durchaus bewusst. An die Kirche schloss sich immerhin einst das Augustinerkloster an, wo Martin Luther eine Zeit lang lebte. Auch die Nachfrage ist da, durch die Lage nahe der Elbe schauen oft Spaziergänger vorbei. Doch die Gemeinde befindet sich im Zwiespalt. „Auf der einen Seite wollen wir Gläubigen den sakralen Raum zur Verfügung stellen, auf der anderen Seite haben wir die Verantwortung, Kulturgut zu bewahren.“ Für Marco Ladewig muss das Dilemma besonders bitter sein, denn der Christ ist auch studierter Historiker.

Passiert ist in der Wallonerkirche bisher fast nichts, nur ein paar Kupferrohre wurden geklaut. Doch der Partnergemeinde wurde 2012 von deren Friedhof eine Engelsstatue gestohlen. Und im Magdeburger Dom sägten Diebe im vergangenen Jahr eine Lanze ab. „Solche Fälle sind in den Köpfen der Gemeinde präsent“, sagt Ladewig. Immerhin beherbergt seine Kirche eine Statue der Heiligen Katharina, die das Bombardement im Zweiten Weltkrieg überstanden hat.

Das Problem mit der Aufsicht kennt Pfarrer Peter Gümbel gut. Auch seine beiden Kirchen in Burg standen bisher von Frühjahr bis Herbst für zwei Stunden am Tag offen, immer bewacht. Mit 15 Leuten die Schichten abzudecken, ist kaum noch zu stemmen, berichtet er. Im Gegensatz zu den Magdeburgern überlegt seine Gemeinde allerdings, die Öffnungszeiten sogar auszuweiten – und es in diesem Zuge zu wagen, die Kirchen unbeaufsichtigt zu lassen.

Was hat den Sinneswandel ausgelöst? „Der Appell der Bischöfin hat uns nachdenklich gemacht. Wenn die Leitung sagt, sie wünscht sich offene Kirchen, dann nimmt das uns ein Stück weit den Druck, Hüter unseres Kunstschatzes sein zu müssen. So können wir es besser mit unserem Gewissen vereinbaren, wenn wir ihn einer Gefahr aussetzen.“ Darüber hinaus gibt es einen sehr pragmatischen Grund: „Nächstes Jahr ist in Burg die Landesgartenschau. Die Kirche liegt nur 200 Meter entfernt, da können wir nicht einfach abschließen.“

Die EKM hat noch ein paar mehr Argumente in petto. Für die Gemeindekirchenräte hat sie eine zwölfseitige Broschüre herausgegeben. Darin verweist sie zum Beispiel auf die Steuern, die in den vergangenen Jahren in die Sanierung von Kirchen in Mitteldeutschland geflossen sind – so dass das Ergebnis auch für alle zugänglich sein sollte. Sie lockt mit der Aussicht auf Touristen. Und sie stellt eine Versicherung vor, die auch bei Schäden in nicht verschlossenen Räumen zahlt. Dafür müssen Gemeinden rund 240 Euro pro Kirche und Jahr aufbringen, im Schadensfall kommt ein Eigenanteil hinzu.

Kirchenratsvorsitzender Ladewig sieht die Versicherung mit Skepsis: „Es geht ja nicht nur ums Geld. Wenn unser mehr als 100 Jahre alter Holzaltar Opfer von Vandalismus wird, dann ist das ein unwiederbringlicher Schaden.“

Diese Sorge kann selbst der Brumbyer Heinz Köhlitz verstehen – auch wenn die St.-Petri-Kirche bis auf einen gestohlenen Altarbehang bisher von Schäden verschont geblieben ist. „Unser Schatz sind die Bilder. So etwas muss man in der Umgebung erst mal finden“, erzählt er stolz. Malereien aus dem 17. Jahrhundert zieren Decke und Emporen. Über Jahre hat die Gemeinde Geld gesammelt, um die 23 Emporenbilder nach und nach restaurieren zu lassen, als Nächstes kommen die Gemälde an der Decke. „Natürlich haben wir große Angst.“

Doch eines beruhigt ihn ein bisschen: der Zusammenhalt im Dorf. „Bei uns schaut immer mal jemand in der Kirche nach dem Rechten“, sagt Köhlitz – und meint damit nicht nur Kirchenmitglieder. Außerdem steht das Pfarrhaus gleich nebenan.

Im Pfarrhaus könnte auch die Lösung für die Wallonerkirche liegen: Ladewig kann sich als Kompromiss vorstellen, dass die Kirche nur dann öffnet, wenn die Sekretärin oder der Küster da ist, sie würden dann ein Auge darauf werfen. Doch entscheiden soll die Gemeinde – Ladewig will sogar die Vollversammlung abstimmen lassen.

Ginge es übrigens nach Pfarrer Gümbel, sollte man sich im Reformationsjahr gar nicht primär auf offene Kirchen konzentrieren. „Ich finde es wichtiger, dass die Gemeinden offen sind. Wir sollten Schwellen abbauen mit Gottesdiensten, die näher bei den Leuten sind.“ Er geht da mit gutem Beispiel voran: Im vergangenen Jahr hat er einen Gottesdienst in einem Kino abgehalten.