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Pokémon Go Die wollen nur Monster jagen

Sachsen-Anhalt ist im Pokémon-Go-Fieber. Allein in der Altmark tingeln Hunderte Fans mit dem Handy-Spiel umher.

Von Elisa Sowieja 20.07.2016, 01:01

Stendal l Wäre es nicht helllichter Tag, könnte man denken, auf diesem Platz geht etwas Geheimes vor sich. Eine groß angelegte Beschattung vielleicht, oder gar der Handel mit illegalen Substanzen. Denn es vergehen keine fünf Minuten, ohne dass ein Grüppchen junger Leute auf den Stendaler Winckelmannplatz tigert, stehenbleibt und sehr lange angestrengt aufs Handy starrt. Ab und zu schauen sie hoch, alle in dieselbe Richtung. Verdächtig. Aber die wollen nur spielen. Sie sind auf der Jagd nach Rattfratz, einer lila Ratte, die sich hier herumtreibt. Sehen kann sie nur, wer auf dem Smartphone Pokémon Go spielt.

Die Handy-App erkennt per GPS den Standort des Spielers, bildet seine reale Umgebung ab und baut virtuelle Monster ein, die es zu fangen und für Kämpfe zu trainieren gilt. Mit dieser Mischung aus Wirklichkeit und Spielewelt schafft das Spiel, woran Eltern verzweifeln: Es lockt die Jugend scharenweise an die frische Luft. Und bringt sie dort auch noch dazu, sich zu bewegen. In den USA wurde Pokémon Go allein in der ersten Woche 7,5 Millionen Mal heruntergeladen, seit vergangenem Mittwoch ist es auch in Deutschland zu haben.

Büroangestellter Stephan Belau hat Rattfratz ratzfatz gefangen. Das geht so: Mit einem Wischer übers Display wirft er eine Kugel auf das fies dreinblickende Viech, dann noch eine – Treffer. Das wäre dann Nummer 271. Allein die Ratte hat er schon zig Mal erwischt. Bei der Ausdauer kein Wunder: Jeden Tag nach Feierabend geht Belau, normalerweise bekennender Stubenhocker, für bis zu zwei Stunden auf Monsterjagd, am Wochenende auch länger.

Warum ihn mit 25 Jahren ein Spiel so fesselt? „Ich bin mit Pikachu und Co. aufgewachsen und nie ganz davon losgekommen“, erklärt der Hobby-Monsterjäger. Für alle, die glauben, hierbei handele es sich um einen missglückten Nieser: Pikachu ist ein putziger gelber Hamsterverschnitt und bekanntester Pokémon. Die kleinen Monster wurden Mitte der 90er Jahre für ein Nintendo-Videospiel erfunden, später kamen Trickserie und Sammelkarten hinzu. „Ich hing damals ständig am Gameboy“, erinnert sich Belau.

Tracy Glantz kommt das durchaus bekannt vor: „Oh ja, und nach der Schule ging‘s immer als Erstes vor den Fernseher, die neue Folge schauen“, ergänzt sie grinsend. Die Physiotherapeutin gehört zum Grüppchen, mit dem Stephan Belau heute unterwegs ist.

Sie alle sind zwischen 25 und 31 Jahre alt, der Großteil kennt sich erst seit ein paar Tagen – und zwar durch die App. Man erkenne andere Spieler ganz leicht, erzählen die fünf, ziemlich oft komme man dann ins Gespräch.

Wie schnell sich das Pokémon-Fieber in Sachsen-Anhalt ausbreitet, zeigen die lokalen Facebook-Gruppen, auf denen sich Fans austauschen und verabreden. „Pokémon Go Altmark“ – gegründet von Stephan Belau – hatte schon nach drei Tagen mehr als 100 Mitglieder, inzwischen sind es 240. Die Halberstädter Gruppe zählt rund 330 Mitglieder, im kleineren Schönebeck sind es 90. Für Magdeburg gibt‘s gleich mehrere Gruppen und eine Fanseite, zusammen haben sie 2500 Anhänger. Am vergangenen Freitag verabredeten sich sogar Hunderte von ihnen zur Nachtwanderung in der Innenstadt.

Zu finden sind Pokémon – übersetzt heißen sie übrigens „Taschenmonster“ – im Grunde überall: auf Straßen, Brücken, in Parks, Bussen, Büros ... „Neulich kam mir einer im Supermarkt entgegengeflogen“, sagt Stephan Belau und präsentiert sogleich stolz das Beweisfoto auf dem Handy. Tatsache: ein grimmiger Vogel mit Irokesenfrisur – direkt vor der Fleisch- theke. Selbst in der heimischen Bratpfanne und auf Toiletten wurden schon Monster entdeckt. 151 verschiedene gibt es insgesamt, jedes hat eine Lieblingsumgebung: Beim Stendaler Landratsamt fühlen sich zum Beispiel Wasserpokémon besonders wohl – das liegt nämlich direkt am Flüsschen Uchte.

Wenn sich irgendwo besonders viele Fans herumtreiben, liegt das meist daran, dass es dort einen sogenannten Pokéstop gibt – einen Ort, an dem man Gegenstände bekommt, mit denen man Monster fangen oder sie stärker machen kann. Oft sind das Sehenswürdigkeiten. Der Winckelmannplatz ist so ein Ort. Am Denkmal in der Mitte sind gerade ein paar Hundert Bonbons zu holen – mit denen wird so ein Mönsterchen im Nu erwachsen.

Und nicht nur das: Gleich gegenüber steht ein bedeutendes Gebäude. Klar, so eine Kirche ist ja irgendwie immer wichtig. Aber diese hier dient zugleich als Pokémon-Arena. Sie ist besetzt von einer Monster-Allianz. Wer direkt davor steht, kann sie bezwingen und den Laden übernehmen. Im Moment müsste man sich dafür mit einem Team anlegen, zu dem auch Belaus Pokémon gehören. Team Blau heißt es – und hat den Dreh mit dem Besetzen anscheinend raus: Zu seinem Portfolio gehört nämlich auch die Jakobikirche. Und der Stadtsee.

Allein in Stendal gibt es zig Pokéstops und Arenen. Die Auswahl ist aus einem Vorgänger-Spiel namens Ingress übernommen. Es hatte ein ähnliches Prinzip, war aber monsterfrei. Die Spieler konnten damals Vorschläge einreichen, indem sie Fotos von möglichen Spielstätten an die Entwickler schickten.

Monsterjäger Belau entdeckt durch die Pokéstops plötzlich in seiner Heimat ganz neue Dinge: „Neulich hab ich festgestellt, dass direkt vor meiner Haustür ein Stolperstein liegt, der an Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Ich wohne da seit zwei Jahren, aber der war mir nie aufgefallen.“ Apropos Aufmerksamkeit: Damit er nicht, wie andere Spieler vor ihm, versehentlich gegen Laternenmasten, vor ein Auto oder auf ein gesperrtes Militärgelände rennt, setzt der Stendaler auf folgende Taktik: Der Vibrations- alarm wird angeschaltet und das Smartphone unten in der Hand gehalten, dann verpasst man nix.

Eine andere Schattenseite des Nintendo-Spiels ist der Datenschutz. Der Anbieter behält sich vor, die Informationen seiner Nutzer – zum Beispiel Bewegungsprofile – weiterzuverwerten. Belau sieht auch das gelassen: „Durch Facebook und Google ist man doch sowieso gläsern“, argumentiert er.

Eine einzige Sache am „Pokémon-Go“-Trend ärgert ihn allerdings schon: „Hätte ich mir mal vor drei Wochen Nintendo-Aktien gekauft!“ Der Hype um die Spiele-App hat das Unternehmen nämlich immens wertvoll gemacht: Der Börsenwert hat hat sich seit Veröffentlichung mehr als verdoppelt.