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Radarfallen Die Mutter aller Selfies wird 60

Über Umwege erhalten Raser seit Jahrzehnten teure Fotos von sich. Erinnerungen aus der Bußgeldstelle.

Von Matthias Fricke 20.01.2017, 00:01

Magdeburg l „Das ist das Gespenst von Halle“, sagt Manfred Meyer von der Zentralen Bußgeldstelle in Magdeburg. Der 65-Jährige zeigt auf ein Blitzerbild und lächelt dabei verschmitzt. Tatsächlich sieht man darauf einen Mann direkt hinter dem geblitzten Auto in einem fast undurchdringlichen Gebüsch am Straßenrand. Der Regisseur eines Horrorfilms hätte es nicht besser in Szene setzen können.

Der Leiter der Auswertungsstelle hat in seiner Zeit seit Gründung der zentralen Auswertungsstelle der Polizei im Jahr 1992 schon jede Menge Merkwürdigkeiten auf den inzwischen Millionen Blitzerfotos der Zentralen Bußgeldstelle in Magdeburg gesehen.

Die kuriosesten Bilder füllen inzwischen einen dicken Aktenordner. Darin zu sehen sind die Doppelgänger von Angela Merkel, Karl Marx und dem „James Bond“-Darsteller Sean Connery ebenso hinterm Steuer zu finden, wie ein paar Verrückte die sich mal eben aus Spaß einen Sack bei einer Geschwindigkeit von 127 km/h über den Kopf ziehen, um im Blindflug durch die Radarfalle zu rasen. Wiederum andere laufen als Jogger durch das Bild, Radfahrer zeigen sich sehr sportlich und werden mit 54 km/h geblitzt. Auch ein Hochzeitspaar konnte vor einigen Jahren ganz offensichtlich nicht schnell genug am Standesamt sein und rauschte in die Radarfalle.

Meyers Kollegin Perid Thoß-Frebel: „Hier, der hätte eigentlich angeschnallt sein müssen.“ Die Auswerterin zeigt ein Bild von einem ausgewachsenen Bernhardiner, der auf dem Beifahrersitz Platz genommen hat. Das Tier verdeckt beinahe die Sicht. Wiederum auf anderen Bildern, die die Auswerter im Laufe der Jahrzehnte gesammelt haben, setzten sich mehrere Personen auf den Fahrersitz, als Ersatz für ein Familienfoto.

Seit 1997 entwickelte das Land Sachsen-Anhalt die Blitzerfotos der Polizei zentral in Magdeburg. Die Reviere brachten die Negativ-Filme zum Entwickeln nach Magdeburg, wo später dann auch die Auswertung erfolgte. Damals, so erinnert sich Meyer, haben 16 Mitarbeiter im Zweischichtsystem an den Blitzerfotos gearbeitet. Heute, im digitalen Zeitalter, sind es nur noch vier.

Schrittweise hat die Polizei ihre Systeme auf digitale Technik vor etwa zehn Jahren umgestellt. „Der Nachteil an den Negativ-Filmen war, dass der Messbeamte keine Kontrollbilder gesehen hat. Wenn es Fehler beim Aufbau der Geräte gab, wurde das erst nach dem Entwickeln der Filme gesehen“, sagt Meyer. Die Fehlerqoute lag entsprechend hoch, so dass damals nur 43 Prozent der Bilder auch ausgewertet werden konnten. Inzwischen kann fast jedes Bild verwertet und für ein Verfahren genutzt werden.

Bei Meyers Team landen jährlich rund 230 000 Bilder, die ausschließlich von den mobilen Blitzern der Polizei geliefert werden. Die Kommunen werten die Fotos ihrer 35 mobilen Anlagen und stationären Blitzer selbst aus. Auch sie können mit ungewöhnlichen Schnappschüssen aufwarten. Das bekannteste stammt aus dem Jahr 2015 aus Merseburg. Ein junger Mann aus Schkopau ließ sich einen ganz besonderen Heiratsantrag einfallen und suchte im Saalekreis eine Blitzersäule, die für das entsprechende Bild sorgen sollte. Der junge Mann entrollte an der Frontscheibe ein Plakat aus auf dem stand: „Willst du mich heiraten?“ Nach mehreren Anläufen löste die Radarfalle auf der Bundesstraße 91 auch aus. Anschließend wartete der Mann ungeduldig auf Post vom Ordnungsamt. Die kam dann auch. Das Bild wurde berühmt und ging sogar weltweit durch die Zeitungen. Das Paar gab sich im Juni vergangenen Jahres im privaten Kreis das Jawort.

Dass Autofahrer auch mal sehr ungeduldig auf ihr Foto sind, erlebt Bußgeldbearbeiter Wilfried Niepel immer wieder: „Wenn zum Beispiel der Sohn Papas Auto unerlaubt genommen hat, kommt das schon mal vor. Da schicken wir den Bescheid auch an eine andere Adresse.“ In diesen Fällen erfolge die Überweisung fast immer prompt.

Die Standard-Ausrede, „Das bin nicht ich auf dem Foto“, zieht übrigens so gut wie nie. Niepel: „Die digitalen Bilder sind viel besser als der verschickte Ausdruck.“

Geändert haben sich auch die Reaktionen der Autofahrer. „Früher haben wir Stellungnahmen sogar in Gedichtform erhalten“, sagt Niepel. Inzwischen sei alles nur kurz und knapp gehalten. Den Rest erledigt immer häufiger der ­Anwalt.