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Reiner Haseloff „Es gibt keine Wechselstimmung“

Reiner Haseloff (CDU), Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, plädiert im Interview für eine Fortsetzung der Großen Koalition.

Von Jens Schmidt 14.04.2017, 01:01

Volksstimme: Herr Ministerpräsident, nach drei Amtszeiten Angela Merkel und steigender Zustimmung für ihren Herausforderer Martin Schulz: Wollen die Deutschen einen Wechsel im Kanzleramt?

Reiner Haseloff: Das glaube ich nicht. Die Deutschen wollen Stabilität. In unsicheren internationalen Zeiten steht Wählern nicht der Sinn nach Experimenten, sie erwarten vielmehr, dass die Regierung die Lage im Griff hat.

Die SPD ist im Umfrage-Hoch. Macht Kanzlerin Angela Merkel genug, um mitzuhalten?

Wir wussten immer, dass das Potenzial der SPD größer als 20 Prozent ist. Daher sehe ich die Umfragezahlen nicht als übertrieben an, sondern als ein Zeichen, dass die SPD ihre Potenziale jetzt besser erschließt. Im harten Tagesgeschäft der letzten Zeit – Krieg in Syrien, Brexit, US-Wahl, Krise der EU – war die Kanzlerin noch nicht im Wahlkampfmodus. Jetzt, wenige Wochen vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, wird sich das ändern, da bin ich mir sicher.

Mit welchen Themen will Ihre Partei punkten?

Deutschland muss in Wirtschaft und Wissenschaft den Anschluss an die Weltspitze halten, aber auch die Entlastung von Familien mit Kindern und die Förderung des Ehrenamts stehen ganz oben – aber das allein reicht nicht. Hinzu kommt das Flüchtlingsthema, das noch nicht beendet ist und bei dem sich die Parteien schon eindeutig unterscheiden. Die Leute wollen wissen, wie Deutschland bei womöglich wieder steigenden Flüchtlingszahlen reagiert, damit es nicht wieder zu einer Situation wie 2015 kommt.

Fordern Sie weiterhin im Gegensatz zur Kanzlerin eine Obergrenze?

Eine Diskussion darüber ist mittlerweile obsolet. Meine noch vor zwei Jahren kritisierte Auffassung wird nicht mehr bestritten, jede Nation hat nur eine begrenzte Aufnahmefähigkeit. Der Bundeshaushalt bildet solch eine Integrationsobergrenze auch ab: Die geplanten Ausgaben sind ja nicht nach oben offen. Die AfD verlangt rigide Lösungen, die nicht grundgesetzkonform sind. Die Linke will möglichst gar keine Begrenzungen. Doch wir brauchen auch in dieser Frage Maß und Mitte. Wir haben im vorigen Jahr erlebt, wie schnell selbst eine Wohlstandsgesellschaft Grundsätze infrage stellt. Eine Demokratie ist nicht automatisch stabil. Die AfD ist mit 25 Abgeordneten in Sachsen-Anhalts Landtag gezogen – das sind immerhin 29 Prozent der Mandate.

Ihr Freund, CSU-Chef Horst Seehofer, pocht aber künftig auf eine im Koalitionsvertrag definierte Obergrenze, andernfalls gehe die CSU nicht in eine Regierung.

Wir brauchen Vorkehrungen, damit sich ein Szenario wie 2015 nicht wiederholt. Dazu gehört vor allem der Schutz der EU-Außengrenzen. Vieles hängt also davon ab, ob und wie wir in Europa zu vernünftigen Lösungen kommen – oder ob wir die Probleme national lösen müssen. Dazu muss es klare Aussagen im Koalitionsvertrag geben. Wichtig ist, auch bei Windstille sollte man an den nächsten Sturm denken.

Die AfD ist in Umfragen abgesackt. Ist die Partei bald verschwunden?

Die Euro-Frage steht zwar etwas im Abseits, die Flüchtlingszahlen sind um 90 Prozent gesunken und die AfD selber ist gespalten und zerstritten: Doch wer glaubt, dass sich das nun nach einem Jahr alles erledigt hat, unterschätzt die Situation. Sicherlich werden etliche, die voriges Jahr mit ihrem Wahlverhalten ein Protestsignal gesetzt haben, mittlerweile nachdenklicher geworden sein. Aber: Die EU ist nicht gerade in einem guten Zustand und ein gewisses Protestpotenzial wird es immer geben. Und was die Umfragen angeht: Die hohe Diskrepanz zwischen Vorhersagen und Wahlergebnissen zeigt, wie unsicher derzeit Demoskopen sind.

Erwarten Sie einen Lagerwahlkampf?

Die CDU kann keinen Lagerwahlkampf führen, da die FDP derzeit nicht im Bundestag ist und eine schwarz-gelbe Mehrheit auch nicht in Sicht ist. Bekanntlich stehe ich für Kontinuität …

Sie können sich also eine weitere Große Koalition mit der SPD vorstellen?

Ja. Wir leben in einer Bundesrepublik, die auf sehr guter Grundlage steht: Mit einem hohen Stand an Beschäftigten, mit guten Einnahmen für Bund, Länder, Gemeinden und die Sozialkassen. Die Leute haben sicherlich die Sorge, dass Wohlstand bewahrt bleibt und dass er gerecht verteilt wird. Jedoch gibt es keine wirkliche wirtschaftlich oder sozialpolitisch bedingte Wechselstimmung. Wenn die SPD das anders sieht, dann muss sie den Leuten erklären, wo sie in den letzten Jahren gesessen hat. Seit 2005 saß sie acht Jahre mit am Kabinettstisch. Und sie hat trotz ihrer 25 Prozent viele ihrer Themen – wie den Mindestlohn oder die Rente ab 63 – durchbekommen.

In der CDU hat sich ein Konservativer Kreis gebildet. Ist die Union zu weit nach links gerutscht?

Das sehe ich nicht so. Es ist sicherlich ein Unterschied, ob die Union mit der FDP oder mit der SPD einen Koalitionsvertrag abschließt. Das hat jedoch nichts mit einer Links-Verschiebung unserer Koordinaten zu tun, sondern mit Kompromissfähigkeit und koalitionspolitischer Realität. Was der Konservative Kreis vorträgt, ist nichts anderes als unser Grundsatzprogramm in Reinstkultur. Es ist ja auch gut, das immer mal zu sagen und sich bewusst zu machen. Denn langfristig gesehen, darf es rechts neben der Union keine politische Alternative geben. Die Union deckt ein breites Spektrum ab. In Bayern wählen vielleicht viele der Unionsanhänger CSU, weil sie Merkel wollen – und hier stehen vielleicht viele der CDU-Wähler hinter Seehofer.

Wir lautet Ihr Wahlziel für Sachsen-Anhalt?

Wir wollen in Sachsen-Anhalt wieder alle neun Wahlkreise gewinnen und die Direktmandate holen.

Auch in der Altmark? Viele sind nach dem Wahlbetrug in Stendal von einem Neuanfang in der Stendaler CDU nicht überzeugt?

Ja, auch in der Altmark, aber dafür muss Vertrauen durch gute Arbeit zurückgewonnen werden.

Wird der späte Ostangleich der Rente ein Wahlkampf­thema?

Ja. Das Ziel der Ost-Länder bleibt: Der Rentenangleich muss wie versprochen 2020 erfolgen, dies darf nicht bis 2025 gestreckt werden.

Aber im Bundesrat sind Sie mit einem Antrag gescheitert.

Die Abstimmung im Bundesrat haben wir verloren. Aber ich bin mir sicher, dass das Thema noch 2017 in einem neuen Koalitionsvertrag wieder aufgerufen wird. Da werden wir nicht nachlassen. Ich bin mir auch sicher, dass wir für Niedrigverdiener in Ost wie in West eine Lösung brauchen, damit ihre Rente über der Grundsicherung liegt. Wer ein Leben lang gearbeitet und eingezahlt hat, muss mehr haben als jemand, der nicht gearbeitet hat.

Was wollen Sie in der Familienpolitik investieren?

Wir müssen vier, fünf Milliarden Euro in die Hand nehmen, um vor allen Familien mit Kindern zu entlasten. Die Elternbeiträge für die Kitas haben Dimensionen angenommen, bei denen viele an die Belastungsgrenze kommen. Ob man das Problem über ein höheres Kindergeld oder über kostenlose Kitaplätze löst, muss man sehen. Viele unserer Familien haben nur ein Kind – mein Wunsch wäre, dass sich daran etwas ändert.

Wird auch ein Einwanderungsgesetz kommen?

Das ist zurzeit kein Thema. Allerdings dürfen wir die Probleme Flucht und Asyl auf der einen und Wirtschaftsmigration auf der anderen Seite nicht vermischen. Bei einem Einwanderungsgesetz geht es darum, Menschen zu uns zu holen, die uns nützen. Auch da müssen wir die Balance wahren: Wir dürfen schwachen Ländern nicht zu viele ihrer Fachleute abwerben, da wir diese Länder dann weiter schwächen würden und wir damit Fluchtursachen erzeugen und nicht beseitigen. Zudem müssen wir klarmachen: Jeder, der nach Deutschland kommt und hier dauerhaft leben will, muss unsere Grundwerte akzeptieren, wozu auch die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau und die Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Partnerschaften gehören. Zudem muss jedem Einwanderer, der einen deutschen Pass will, klar sein, dass er damit auch in die deutsche Geschichte eintritt: Dazu gehört, das Existenzrecht Israels anzuerkennen und jeglichen Antisemitismus abzulehnen.

Wie steht es um eine völlige Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften?

Dazu müsste das Grundgesetz geändert werden. Ich halte das nicht für erforderlich. Die Regelung, die wir jetzt haben, geht für eine moderne Gesellschaft in Ordnung.

Ein im Osten heiß diskutiertes Thema heißt: Wolf. Seitdem ein totes Tier in Magdeburg gefunden wurde, sehen Sie Handlungsbedarf, Ihre Umweltministerin aber warnt vor einer Gefühls-Debatte.

Natürlich dürfen wir nicht mit Gefühlen argumentieren, sondern mit Fakten. Daher werden jetzt die Bestände untersucht. Einigkeit besteht darin, die rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, den Schutz der Tiere zu gewährleisten, ihn aber auch politisch akzeptiert zu gestalten. Der Schutzstatus bedeutet ja auch, dass die Wolfs-Populationen existenztragend sein sollen, ohne dass dadurch das natürliche Gleichgewicht gestört wird. Deshalb muss geklärt werden, welches die adäquate Wolfsdichte für ein Bundesland wie Sachsen-Anhalt ist. Wir haben 200 Jahre ohne den Wolf gelebt. In dieser Zeit hat sich die Kulturlandschaft entscheidend gewandelt, die Bevölkerungsdichte ist heute sechs Mal so hoch. Das muss berücksichtigt werden. Es darf nicht sein, dass erst etwas passiert, bevor wir reagieren.