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RollenspielKai ist jetzt ein Alien

In Mahlwinkel tun 400 Erwachsene tagelang so, als wären sie Überlebende einer Alien-Invasion. 100 weitere mimen die Außerirdischen.

Von Elisa Sowieja 28.09.2016, 01:01

Mahlwinkel l Der Tarngenerator neben der Tür brummt beruhigend. So lange der leuchtende Riesenklotz läuft, können einen die Außerirdischen hier nicht aufspüren. Fünf Meter weiter hockt ein Techniker mit Lötkolben und krauser Stirn vor einer Kryo- Regenerationseinheit. Wenn er die in Gange kriegt, könnten darin endlich Verwundete im Schlaf geheilt werden. Willkommen im Basislager der letzten Menschen. Nach einer Alien-Invasion im Jahr 2021 bereiten die Widerständler hier ihre Überlebens-Missionen vor.

In der Welt von 2016 ist die Basis ein Häuserkomplex auf einem Ex-Militärgelände in Mahlwinkel im Landkreis Börde, mitten im Wald. Als Tarngenerator dienen drei 1000-Liter-Wassertanks mit eingeklebten LEDs, das Brummen kommt aus einem Lautsprecher, die Kryo-Regenerationseinheit ist ein grau angepinseltes Solarium.

Einmal im Jahr wird das Gelände für vier Tage Schauplatz des Echtzeit-Rollenspiels „Resistopia“, so auch vergangenes Wochenende. Dieses Larp – kurz für „Live Action Role Playing“ – funktioniert wie Improvisationstheater in einer wahrgewordenen Computerspielwelt. Die Spielleiter geben eine grobe Handlung vor und schicken die Teilnehmer zu Missionen – Medikamente bergen, Vermisste suchen, Technik reparieren, eine Bibliothek aufbauen. Das Larp läuft rund um die Uhr. Wer müde ist, macht ein Nickerchen im Zelt, dann ist aber wieder Überleben angesagt.

Jeder Spieler hat sich vorab einen Job ausgesucht: Es gibt zum Beispiel Techniker, Forscher, Ärzte und Politiker. Nicht zu vergessen Kämpfer, die ihre Leute bei Missionen beschützen. Denn draußen lungern um die 100 bewaffnete Aliens herum. Von denen gibt es zwei Sorten. Die eine erkennt man auf den ersten Blick: an ihrer Ganzkörperrüstung. Erinnert ein bisschen an Sir Lancelot. Nur hatte der weder Leuchtpunkte am Arm noch ein Metall-Schwänzchen auf der Brust.

Die andere Sorte ist wie Kai. Kai sieht aus wie ein Mensch, allerdings nicht gerade wie das blühende Leben. Leichenblass ist er, und auf der Stirn hat er dicke, fette Krampfadern. Seit sich ein Parasit durch seinen Nacken gefressen und von ihm Besitz ergriffen hat, hilft er seinen neuen Artgenossen, den Rest der Menschheit um die Ecke zu bringen.

Wie ihm die Erde als Arbeitsplatz gefällt? „Wunderbar!“, schwärmt der vollbärtige Hüne. Dabei gibt er sich so hingerissen, als ginge es um eine Hundewelpenschule. „Nur eins versteh‘ ich nicht: warum diese Menschen sich immer wehren.“ Dass Kai gerade überhaupt was sagt, ist eine absolute Ausnahme. Normalerweise lässt er sich nicht dazu herab, wie Menschen zu kommunizieren. Im Gefecht verständigen er und seine Alien-Kumpels sich mit Klickern – einmal klicken für gehen, zweimal für stehen, ...

In der Alien-freien Welt ist der 35-Jährige, mit vollem Namen Kai Hansen, eher der Helfertyp: von Beruf Rettungs-assistent. Zu Larps fährt er, seit er 18 ist – meist darf man dann erst mitmachen, auch in Mahlwinkel. Kai Hansen war schon Ninja, Ork, Mafia-Beschützer. Immerhin gibt‘s die Rollenspiele in unterschiedlichsten Welten. Jetzt mal kurz im Ernst: Was fasziniert ihn daran: „Im Beruf trage ich viel Verantwortung. Hier kann ich die mal abgeben und jemand ganz anderen spielen.“

Vielleicht ist es dieser Gedanke, der eine so bunt gemischte Spielerschaft nach Mahlwinkel zieht: Die Teilnehmer sind zwischen 18 und 50 Jahre alt. Ihre Berufe: Student, Informatiker, Sekretärin, Arzt, Anwalt, ... Die Spieler reisen aus der ganzen Bundesrepublik an, einige auch aus Dänemark, Österreich, England und der Schweiz.

Während die Aliens in Rüstung nur mit einem roten Leuchten angreifen – das den Gegner sofort veranlassen sollte, mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden zu sinken –, schießen alle anderen mit Softair-Waffen. Die feuern mit Druckluft kleine Plastikkugeln ab. Bei „Resistopia“ sind Modelle mit maximal 0,5 Joule erlaubt, die gehen per Gesetz noch als Spielzeugwaffe durch. In der Regel verursachen sie nicht mehr als den einen oder anderen blauen Fleck.

Etwa einmal pro Stunde schicken die Spielleiter eine Horde Aliens los, um die Überlebenden bei ihren Missionen aufzumischen. Mit Kriegsspiel hat „Resistopia“ für Kai Hansen trotzdem nichts zu tun: „Für uns alle steht das Rollenspiel im Vordergrund. Deshalb bereiten wir ja auch den Spielort und die Kostüme so detailgetreu vor.“

An Dennis Kotschenreuther ist die Liebe zum Detail besonders gut erkennbar. Der 36-Jährige mimt den Technik-Chef Claus T. Haler – Ähnlichkeiten zu einer Biersorte sind keineswegs zufällig. Allein in seine Weste hat er rund 15 Stunden Arbeit investiert, sie mit fluoreszierender Farbe besprenkelt und Requisiten für die Taschen zusammengesammelt: Schraubenzieher, Panzertape, Stabtaschenlampe. Dann hat er noch eine Funkgerät-Attrappe gebaut, mit einer Reitgerte als Antenne und Silbereffektspray als Alienblut.

„Wir spielen nichts, was man nicht darstellen kann“, erklärt Kira Groß-Bölting, die zu den rund 15 Organisatoren gehört. Und so gibt es in der Basis eine Kommandozentrale mit einem liegenden Flachbildschirm, der das Gelände in einem Raster abbildet, und einen OP-Raum mit grüner Liege und Skalpellen. Wer dort eine Alien-Wunde heilen will, greift zur Dose mit dem Aufdruck „Medical Foam“ – medizinischer Schaum. Bevor sie überklebt wurde, war es stinknormaler Rasierschaum.

Die unzähligen kleinen Requisiten bringen die Spieler selbst mit. Große Gerätschaften – Feldbetten, Solarium, Rüstungen – haben die Organisatoren im Laufe der Zeit zusammengesammelt. Denn die veranstalten schon seit zehn Jahren Rollenspiele in Mahlwinkel. Drei Versionen gibt es inzwischen. Die Alien-Apokalypse kam im vergangenen Jahr als letzte hinzu, davor gab es schon ein Spiel mit Zombies und eines mit Mutanten. Das Gelände hat das Team, das sich „Lost Ideas“ nennt, durchgängig gepachtet.

Finanziert wird das Ganze mit dem Ticketverkauf. Im Schnitt 130 Euro kostet eines für vier Tage. Gewinn machen die Veranstalter nach eigenen Angaben nicht. „Was wir einnehmen, stecken wir wieder in die Larps“, erklärt Kira Groß-Bölting. Trotzdem investiert die Dortmunderin in der heißen Phase immer um die 20 Stunden pro Woche in die Vorbereitung. Das ist es wert, findet sie: „Sobald ich auf das Gelände fahre, bin ich in einer komplett anderen Welt.“