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Schlecker Der lange Schatten der Pleite

2012 rutschte Schlecker in die Pleite. Der Schock des Zusammenbruchs wirkt bei den Ex-Beschäftigten nach.

Von Alexander Walter 07.03.2017, 00:01

Magdeburg l Andrea Lüdtke kann sich noch gut erinnern: Da stand sie nun also im leeren Schlecker-Markt und wusste: ‚Jetzt ist Feierabend‘. Die Regale waren leer, die Kunden gegangen. Als Letzte musste sie sprichwörtlich das Licht ausschalten. „Da habe ich abgeschlossen und geweint“, erinnert sich Lüdtke vor wenigen Tagen an diese letzten Augenblicke. 17 Jahre Schlecker lagen hinter ihr, vor ihr nichts als Sorgen: „Ich wusste nicht einmal, ob ich meine Miete weiterzahlen kann.“

So wie Andrea Lüdtke ging es vielen. Mit der Insolvenz seiner Drogerie-Kette hatte Gründer Anton Schlecker Anfang 2012 für eine der größten Firmenpleiten der deutschen Nachkriegsgeschichte gesorgt. Kurz darauf lag das Unternehmen mit 36.000 Beschäftigten in Scherben. Allein in Sachsen-Anhalt waren knapp 800 Mitarbeiter, zumeist Frauen, in rund 160 Filialen betroffen.

Mit den Drogerie-Märkten brachen nicht nur die Arbeitsplätze weg. Gerade in kleinen Städten und Dörfern waren Schlecker und die zugehörigen Ihr-Platz-Märkte ein wichtiger Nahversorger. Nicht überall stießen andere Anbieter in die entstehenden Lücken. Nicht wenige einstige Schlecker-Märkte stehen bis heute leer.

Seit Montag nun muss sich Anton Schlecker vor dem Stuttgarter Landgericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Patriarchen vor, die Insolvenz der Drogeriekette geahnt und vorsorglich Gelder beiseite geschafft zu haben. Insgesamt soll sich der Betrug auf über 20 Millionen Euro belaufen. Im schlimmsten Fall drohen dem einstigen Drogerie-König bis zu zehn Jahre Haft. Wegen Beihilfe zum Bankrott sind auch seine Frau Christa und die beiden Kinder angeklagt. Dunkle Wolken waren lange vor der Pleite erkennbar, erinnert sich Andrea Lüdtke, die 2012 Filialleiterin in der Arnold-Zweig-Straße in Magdeburg war. Regale blieben leer. Nach und nach machten immer mehr Läden dicht. „‚Wir ziehen um‘, haben wir damals an die Eingänge geschrieben“, erzählt Lüdtke.

Eine Begegnung mit dem Unternehmerpaar findet sie im Nachhinein bezeichnend: Drei Jahre vor der Pleite tauchten Anton und Christa Schlecker plötzlich in ihrer Filiale auf. Eigentlich sollten beide den Nachbar-Markt nur wenige hundert Meter weiter besuchen. Weil schon damals Mangel herrschte, war jener mit Ware aus Lüdtkes Markt großzügig aufgefüllt worden. Angesichts leerer Regale habe Christa Schlecker sie gefragt, ob es etwa Probleme mit der Nachlieferung gebe, erzählt Lüdtke. Heute frage sie sich: „Wussten sie es wirklich nicht oder wollten sie es nicht sehen?“ Es sei eine Inszenierung wie zu DDR-Zeiten gewesen.

Als Anfang 2012 die Nachricht von der Insolvenz kam, war das für Lüdtke trotzdem ein Schock. Schließlich hatte das Unternehmen mit der Sparte Schlecker XL gerade erst ein Netz modernerer Filialen aufgebaut. Es begann die Zeit des Bangens: „Wir hofften, dass wenigstens ein Teil der Läden erhalten bleibt“, sagt Lüdtke. Als die erste Kündigungswelle rollte, fragten die Mitarbeiterinnen einander täglich: „Sag, mal hast du schon Post bekommen?“ Das ging an die Substanz, erinnert sich Lüdtke. „Ich konnte nicht mehr richtig essen und habe extrem abgenommen.“ Im Juni dann die Nachricht, dass es keinen Investor geben wird. Mit einem Schlag war alle Hoffnung zerstört. „Warum hat uns die Politik nicht geholfen“, fragt Lüdtke. Beim Verkauf der Tengelmann-Supermärkte habe das doch auch geklappt.

Es begann der große Räumungsverkauf. Als rechte Hand ihres Bezirksleiters musste Lüdtke Läden ausräumen und die Abwicklung organisieren. „Zum Schluss ging alles für 10 Cent raus“, sagt sie. „Heute frage ich mich, wie ich das durchziehen konnte.“

Am Ende stand die Kündigung. Mit ihren Kollegen fand sich Lüdtke im Arbeitsamt wieder. In einem PC-Kurs blieben viele von ihnen noch zwei Monate zusammen. „Ich glaube, den Abnabelungsprozess haben wir gebraucht“, sagt die 42-Jährige heute. Für sie selbst folgten Monate mit Mini-Jobs. Erst in einem NP-Markt, dann bei Rossmann im Elbepark und zusätzlich in einer Physiotherapie. Vom normalen Leben zog sich die Magdeburgerin zurück. „Ich wollte nicht gefragt werden: ‚Und hast du schon wieder eine richtige Arbeit?‘“, sagt sie. Eine feste Stelle in einem Drogeriemarkt, das wäre Lüdtke am liebsten gewesen. Doch zunächst hatte sie kein Glück. Auf 20 Bewerbungen erhielt sie nur Absagen.

Die Wende kam mit dem Tipp ihrer Schwester, es doch mal übers Intranet von Rossmann zu versuchen.

2014 folgte die Einladung zum Vorstellungsgespräch. Lüdtke sollte Verkäuferin in Magdeburg werden. Der Mini-Job bei Rossmann im Elbepark kam ihr allerdings zugute, die Chefin wollte sie behalten. Und so wurde sie deren stellvertretende Filialleiterin. Nach zwei Jahren Ungewissheit folgte 2016 die Entfristung. „Ich war so happy, mir sind 1000 Steine vom Herzen gefallen“, sagt Lüdtke. „An diesem Abend habe ich meinen Freund zum Essen eingeladen.“

Während 2013 erst 300 der einst 800 Schlecker-Mitarbeiter im Land einen neuen Job gefunden hatten, fehlen aktuelle Vergleichszahlen. Vielen Schlecker-Frauen könnte es aber ähnlich wie Andrea Lüdtke ergangen sein. Allein Rossmann hat nach eigenen Angaben bundesweit mehr als 2000 Mitarbeiter übernommen.

Kolleginnen von Andrea Lüdtke arbeiten heute aber auch in Restposten-Märkten, Imbiss-Verkäufen oder Steuerbüros. Schwerer dürften es ältere Beschäftigte, vor allem die über 50 Jahre, gehabt haben, vermutet Lüdtke. Sie selbst konnte mit Schlecker nur abschließen, weil sie einen neuen Job gefunden habe, sagt die Magdeburgerin. Über die Zeit der Pleite sagt sie heute: „So etwas möchte ich nie wieder erleben.“ Den Prozess gegen Anton Schlecker will Lüdtke im Fernsehen verfolgen. „Wenn es stimmt, dass er Millionen beiseite geschafft hat, möchte ich, dass er ein gerechtes Urteil erhält.“ Ob es so kommt, wird sich wohl frühestens im Oktober zeigen. Das Gericht nimmt sich Zeit für eine umfassende Prüfung. Angesetzt sind vorerst 26 Verhandlungstage.