1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Die Suche nach der Nische

Schulgründung Die Suche nach der Nische

Dass Angern noch eine Grundschule hat, verdankt es einer Truppe unermüdlicher Einwohner, die mithilfe eines Vereins die Schule retteten.

Von Elisa Sowieja 30.11.2016, 00:01

Angern l Lesen, rechnen, Igelhaufen bauen. In der „Um-Welt-Schule Angern“ lernen die Erstklässler heute, wie sie den Stacheltieren in ihrer Nachbarschaft ein Winterquartier bereiten. Im Waldstück hinter dem Schulgelände, mitten in der Colbitz-Letzlinger Heide, türmen sie eifrig Äste, Reisig und Laub auf. Als das Bauwerk fertig ist, schwirrt die Klasse für eine Zusatzaufgabe aus: Da der erste Bewohner noch auf sich warten lässt, hat die Lehrerin Igel aus Papier versteckt. Sophia findet den ersten. „Da, hinter der Birke“, ruft das quirlige blonde Mädchen. Die Baum­arten erkennen sie und die anderen schon wie die Großen. Denn sie sind im Unterricht ständig hier.

Der Schwerpunkt Natur bildet einen Teil des besonderen Konzepts der Einrichtung. Ohne das hätte das 2000-Seelen-Dorf heute keine Grundschule mehr. Um eine Schließung zu verhindern, hat ihr Förderverein die öffentliche in eine Privatschule umgewandelt. Vom Land erlaubt wird das nur mit einem außergewöhnlichen pädagogischen Konzept. Wegen dieser Hürde ist die Gründung von Grundschulen in freier Trägerschaft eine Seltenheit. Die in Angern war im Schuljahr 2015/16 die einzige neue in ganz Sachsen-Anhalt. Und sie schaffte es erst im zweiten Anlauf.

Doch von vorn: Als 2013 bekannt wird, dass das Kultusministerium die Mindestschülerzahl in Sachsen-Anhalt anheben will, steht die Zwergschule in Angern auf der Kippe. Das Dorf kämpft. „Der Zulauf im Förderverein ist zu dieser Zeit explodiert“, erzählt Andrea Schlickum, eine der Vorsitzenden. Aus rund 30 werden mehr als 100 Mitglieder – darunter viele, die gar keine Kinder im Grundschulalter haben.

Die Mitglieder laufen in Massen bei Ratssitzungen der Einheitsgemeinde auf, rufen einen Bürgerentscheid ins Leben. Doch es hilft nichts. Als im Sommer feststeht, dass die Schule geschlossen wird, sind sich die Mitglieder längst einig über Plan B: eine Privatschule.

Im nächsten halben Jahr stürzt sich ein harter Kern von rund 15 Leuten auf die Beantragung. Eine Mammutaufgabe. Denn das Land will für die ersten drei Jahre, in denen sich eine Privatschule komplett selbst finanzieren muss, bevor sie anerkannt und gefördert werden kann, für alles Verträge sehen.

Die Gruppe teilt sich in Grüppchen auf. Die einen kümmern sich um Sponsoren – klappern die kleinen Läden im Dorf ab, halten Vorträge vor großen Firmenbossen der Region. Die nächsten handeln mit der Gemeinde den Mietvertrag für das Schulgebäude aus. Wieder andere gehen von Tür zu Tür, um mit den Eltern der künftigen Erstklässler Schulverträge zu schließen. Weitere Baustellen: Lehrer, Finanzplan, Bankdarlehen.

Den größten Aufwand macht aber das Konzept. Im Grundgesetz ist festgelegt, dass private Grundschulen nur zugelassen werden, wenn es sich entweder um eine religiöse beziehungsweise eine Weltanschauungsschule wie Waldorf handelt oder wenn die Unterrichtsverwaltung – hier das Land – ein „besonderes pädagogisches Interesse“ anerkennt. Sprich: Es muss etwas geboten werden, das es bisher weder an staatlichen noch an privaten Schulen im Land gibt.

Das wird immer schwieriger, sagt Jürgen Banse vom Verband Deutscher Privatschulen in Sachsen-Anhalt: „Die staatlichen Schulen geben sich auch Programme, so dass immer mehr Nischen belegt sind.“ Das zeigen auch die Zahlen: Für das aktuelle Schuljahr wurde von fünf beantragten Grundschulen nur eine genehmigt, im Jahr zuvor war es eine von zweien. Davor lag die Quote noch höher: 2014/15 bei drei von vier Schulen, 2013/14 bei einer von einer. Viele Interessenten seien sogar schon im Vorfeld abgeschreckt, sagt Banse: „Die meisten, die zu uns zur Beratung kommen, lassen es danach sein.“

Dass es für Grundschulen solche strenge Vorgaben gibt, erklärt das Bildungsministerium in Sachsen-Anhalt sinngemäß so: Die Grundschule ist eine Form für alle Kinder, erst nach der Zeit dort sollen sich die Bildungswege trennen. Deshalb soll die Grundschullandschaft nicht so ausdifferenziert sein. Private Einrichtungen sind demzufolge nur als Ausnahmen vorgesehen.

Der Förderverein in Angern beißt sich an der Vorgabe der Einzigartigkeit zunächst die Zähne aus. Zum Schuljahr 2014/15 soll es eigentlich losgehen mit einem Konzept, das auf den Schwerpunkt Umwelt ausgerichtet ist. Doch einen Monat vor Schulbeginn flattert die Ablehnung ins Haus. „Nach all den Rückschlägen mussten wir uns schon wieder aufrappeln“, erinnert sich René Rode vom Vereinsvorstand.

Der Verein bastelt ein neues Konzept. Zur Umwelt kommen die Schwerpunkte Region und Englisch. Umgesetzt werden sie so: Alle Schüler haben pro Woche zwei Extra-Stunden. In denen läuft, unabhängig vom Sachkunde-Unterricht, das Fach „Umwelt- und Naturkunde“: Die Kinder besuchen ihre eigene Streuobstwiese, bestimmen im Wald Bäume; sie lernen aber auch ihre Region kennen – schauen im Kleintierzuchtverein beim Hühnerfüttern zu, lassen sich im Milchviehbetrieb die Melkanlage erklären.

Für den Englisch-Teil sind zwei Muttersprachler an Bord. Ein Webseiten-Programmierer aus England und ein Australier, der einst Schulbus fuhr und jetzt an einer Sprachschule lehrt, sitzen an drei Tagen pro Woche mit im Unterricht. Steht zum Beispiel in Mathe eine Sachaufgabe an, erklären sie die mit Hilfe von Bildern nochmal auf Englisch.

Das neue Konzept hält den Anforderungen stand. Im Schuljahr 2015/16 dürfen in Angern die ersten 13 Erstklässler der Privatschule starten.

Auch an anderen freien Grundschulen im Land haben die Träger mehrere Schwerpunkte kombiniert, um in einer Nische zu landen: Bei der „Bilingualen Grundschule Altmark“ in Stendal etwa sind es Englisch und Computer. In Plötzkau (Salzlandkreis) gibt es sogar eine Einrichtung mit fünf Schwerpunkten: Mensch, Umwelt, Technik, Integration/Inklusion und Gesellschaft – kurz „Mutig“.

In Angern ist im September mit elf Kindern der zweite Jahrgang gestartet, für den dritten gibt es schon 16 Anmeldungen. Die Privatschule läuft allerdings nur dank zwei besonderer Umstände: Zum einen ist die Leiterin für die Gründung aus der Rente zurückgekehrt. „Wir hätten keinen gefunden, der das Risiko eingeht, für eine noch nicht genehmigte Schule seinen Vertrag zu kündigen“, erklärt Rode.

Zum anderen bürgen Andrea Schlickum und die erste Vorsitzende des Fördervereins für einen Teil der Finanzierung mit ihrem Privatvermögen. Das Schulgeld – 50 Euro im Monat – deckt nur einen kleinen Anteil der Kosten, die in den drei Jahren ohne Förderung aufgebracht werden müssen. Dem Verein zufolge macht es zusammen mit den Mitgliedsbeiträgen nur etwa zehn Prozent aus. Die Hälfte kommt demnach von Sponsoren und der Gemeinde, für den Rest ist ein Darlehen nötig.

Doch wieso tut man sich all das überhaupt an? Schlickum – ihr jüngstes Kind ist nicht mal mehr in der Grundschule – erklärt es so: „Wir wohnen hier nicht nur in einer super schönen Gegend. Es gibt auch einen Fleischer, einen Bäcker, einen Friseur – und eben eine Schule. Ohne all das würde niemand mehr hierherziehen.“